2. Kapitel: Zwischen den Kriegen

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Arbeiterbildung ist wichtig: AK Kurse oder Vorträge in Volkshochschulen sind gut besucht; Büchereien florieren. Fritz Brügel als Leiter der AK Bibliothek kann sogar Professor Hans Kelsen, den Autor der österreichischen Verfassung, als Referent für AK Kurse gewinnen.
Die Arbeitslosenversicherung ist eine der großen Erfolge aus der sozialpolitischen Offensive zu Beginn der Republik. Lehrlinge erhalten eine „Entschädigung“. Im Lauf der 20er Jahre verschlechtert die wirtschaftliche Lage mehr und mehr. Inflation und Währungskrise führen zu einer steigenden Arbeitslosigkeit. In Wien versucht die Stadtregierung mit einem ehrgeizigen Wohnbauprogramm und einem sozialen Fürsorgenetz auch der prekären Gesundheitssituation entgegen zu wirken.
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In den Gemeindebauten gibt es die beliebten Arbeiterbüchereien.

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Eine sozialpolitische Achterbahn
Österreich zwischen
1920 und 1945
Wie lebt es sich zwischen zwei Weltkriegen?
versammlung

Ferdinand Hanusch schnürt ein Paket an vorbildlichen Sozialgesetzen. Die Arbeiterkammern haben eine zentrale Stellung als gleichwertige Partnerinnen der Handelskammern. Gemeinsam sollen wichtige Aufgaben gelöst werden.

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Die Arbeiterkammern sollen den „Gewerkschaften ein Apparat sein, die Wirtschaft zu durchleuchten, sozialpolitisch das Gestrüpp gesetzlicher Einrichtungen zu durchdringen und arbeitsrechtlich alles verteidigen zu helfen.“ Dem Wiener Präsidenten Franz Domes steht als erster Sekretär Ferdinand Hanusch zur Seite, der auch die gesamtösterreichischen Aufgaben koordiniert.

Beengt, feucht, klein
Viele Menschen leben auf engem Raum. Wasser gibt es nur am Gang, die Toiletten teilen sich alle Bewohner eines Stockwerks. Es ist feucht, stickig und es stinkt. Trotzdem ist das Wohnen so teuer, dass manch einer tagsüber sein Bett vermietet. Oft wird in den Wohnungen Heimarbeit geleistet.
Zur Wohnungsnot kommt die Arbeitslosigkeit. Der größte Fortschritt ist der Mieterschutz. Der Mietzins wird fixiert. 1922 wird „das rote Wien“ ein eigenes Bundesland.
Jeder zehnte Wiener wohnt in einem Gemeindebau.
Die Wiener Stadtregierung führt die kommunale Wohnbausteuer ein und baut zwischen 1925 und 1934 mehr als 60.000 Gemeindewohnungen: Metzleinstaler Hof, Karl-Marx-Hof, Sandleitenhof, Reumannhof. Alle Bewohner können die Gemeinschaftseinrichtungen nutzen: Bäder, Büchereien, Waschküchen, Gesundheitseinrichtungen.
Freizeit
Für Wienerinnen und Wiener wird die Freizeit bunter: Sportstätten werden gebaut, der Arbeitersportklub gegründet. Die Kinderfreunde betreiben Kindergärten und Horte, die Roten Falken betreuen Schulkinder in den Ferien. Theater und Konzerte beleben die Kulturlandschaft. Die Arbeiterzeitung erlebt eine Hochblüte und in den Gemeindebauten sind Hausvertrauensleute die Ansprechpersonen für alle Bewohner.
Gesundheit
In den Gemeindebauten werden Mütterberatungsstellen und Zentren für die Gesundheitsfürsorge eingerichtet. Für jeden neu geborenen Säugling gibt es ein Wäschepaket. Um Schulkinder kümmern sich Schulärzte und Schulzahnärzte. Die Stadt Wien kauft als erst dritte Stadt weltweit Radium, damit im Krankenhaus Lainz Krebspatienten bestrahlt werden können. Kinder berufstätiger Mütter sind im Hort, in Kindergärten und Kinderfreibädern gut betreut; der Verwahrlosung der Kinder auf der Straße vorgebeugt.

Die politische Lage in der ersten Republik ist konfliktreich.
1933 schaltet Bundeskanzler Dollfuß das Parlament aus und regiert mit Notverordnungen.
Dem Verbot der Kommunisten folgt nach dem Scheitern des Februaraufstandes das Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften.
Ab 1934 gibt es eine ständische Verfassung. Die Demokratie ist abgeschafft.

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Wilhelmine Moik ist Widerstandskämpferin in den illegalen Freien Gewerkschaften und der „Sozialistischen Arbeiterhilfe“. Sie wird verhaftet und kommt in Gestapo-Haft. Ab 1945 baut sie die ÖGB-Frauenabteilung auf.

Josef Kittl überlebte Haft und KZ.

Josef Kittl organisierte Hilfe für die Familien eingekerkerter Oppositioneller, KZ-Haft, Todesurteil, Begnadigung. später AK-Vizepräsident in Salzburg.

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Käthe Leichter: Leiterin der ersten AK-Frauenabteilung, Untergrundkämpferin, Oppositionelle, Jüdin, ermordet 1942 in Bernburg

Johann Staud wurde im KZ ermordet.

Johann Staud: Vorsitzender der christlichen Textilarbeitergewerkschaft, ab 1938 KZ-Haft in Dachau, 1939 Tod als Folge der brutalen KZ-Haft

Karl Maisel nach der Rückkehr aus dem KZ.

Karl Maisel wird nach dem Scheitern des Aufstands gegen die Diktatur im Februar 1934 im „Anhaltelager“ Wöllersdorf inhaftiert. 1939/40 ist er im KZ Buchenwald, 1944 in Gestapohaft. Sozialminister von 1945 bis 1956, dann bis 1964 AK-Präsident.

1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Österreich ist nicht mehr selbstständig. Jetzt gibt es die Deutsche Arbeitsfront, die nach dem Führerprinzip organisiert ist. Die Arbeiterkammern werden aufgelöst.
1939 – 1945: Dem NS-Terror fallen zahlreiche Gewerkschafter zum Opfer.
Max, Anna und Julie
MAX
geboren 1912
Elektromechaniker
ANNA
geboren 1914
Hilfsarbeiterin
JULIE
geboren 1938

Klicken Sie sich durch die Biographien und leben Sie den Alltag der Familie mit.

Max ist das erste von fünf Kindern. Er lebt mit seinen Eltern in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung. Die Mutter hat die Kinder mit Wäschewaschen durch den Krieg gebracht. Er geht in eine fünfklassige Volksschule, dann in eine dreiklassige Bürgerschule und ist ein sehr guter Schüler. Mit seinen Freunden spielt er liebend gern Fußball mit dem Fetzenlaberl. Nach langem Suchen finden seine Eltern für ihn eine Lehrstelle als Elektromechaniker in einem großen Betrieb. Dieser ist gewerkschaftlich organisiert, hat einen Betriebsrat und einen Lehrlingsvertrauensmann. 

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Natürlich wird Max auch Gewerkschaftsmitglied und kommt so gesellschaftlichen und politischen Themen näher. Als der Justizpalast brennt, darf er als Lehrling nicht mit den anderen Arbeitern Richtung Innenstadt marschieren.
Auch Max ist einmal kurz arbeitslos, er hat aber Glück und findet schon 6 Wochen später eine neue Stellung. Mittlerweile ist er Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und bei einer Reihe von Freizeitvereinen. Er besucht regelmäßig die neuen AK Kurse, bildet sich auf vielen Gebieten fort. In der Arbeiterbücherei liest er unentgeltlich Kindern vor. Hier lernt er auch Anna kennen.
Viele seiner Fußballfreunde haben nicht das Glück gute Arbeitsverhältnisse kennen zu lernen. Sie hanteln sich von einer kurzfristigen Arbeit zur anderen, getrennt durch oft sehr lange Zeiten der Arbeitslosigkeiten und verdienen schlecht. 600.000 Arbeitslose gibt es 1934, nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen bekommt Arbeitslosengeld. Alle anderen sind „ausgesteuert“ – ohne Unterstützung.
Arbeitslos und ausgesteuert
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Anna will Stenotypistin werden, wie ihre beste Freundin. Die Arbeit stellt sie sich interessant vor. Nur leider findet sie keine Stelle und muss als Arbeiterin in einer Textilfabrik arbeiten. Diese Arbeit ist anstrengend. Wie bei ihren Kolleginnen auch, brennen oft die Augen, schmerzt der Rücken. Es kommt vor, dass sie in der Nacht auch nicht schlafen kann, weil sie immer noch den Lärm der Maschinen hört.
stenotypistin
Anna besucht am Abend Arbeiterkurse im Volksheim, vor allem in Ottakring und geht mit ihren Freundinnen in den Arbeitersportverein. Auf den Urlaub freut sie sich besonders: Eine ganze Woche darf sie zu Hause bleiben und bekommt trotzdem ihren Lohn bezahlt!
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Zu Beginn leben die beiden in einer Einzimmerwohnung, später bekommen sie eine Wohnung im Gemeindebau. Anna liest weiterhin sehr viel, ist sportlich und nimmt 1931 an der Arbeiterolympiade teil. 1933 kommt ihr erstes Kind zur Welt, 1936 das zweite. Julie wird 1938 geboren. Die Familie kommt gerade so über die Runden. Manchmal schickt Anna ihren ältesten Sohn ins Geschäft Lebensmittel einkaufen. Er muss anschreiben lassen. Anna ist es nicht unrecht, dass sie später in der Rüstungsindustrie Arbeit findet und Geld verdient. Denn auch Max muss an die Front.
Julie kann sich nicht an ihren Vater erinnern. Er war im Krieg, sie mit ihrer Mutter und den älteren Geschwistern daheim in Wien. Oft gehen sie in den Wienerwald um Beeren zu pflücken. Sie klopfen bei Bauern an um zu tauschen. Anna versucht, immer einen Topf mit heißer Suppe am Herd stehen zu haben. Da gibt’s dann ein Brot dazu, und Kartoffeln, manchmal auch Steckrüben.
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Schlimm ist für die Kinder, dass sie plötzlich mit manchen ihrer alten Freunde nicht mehr spielen dürfen. Eines Tages sind diese dann ganz weg, und Julie hört nichts mehr von ihnen. Sie darf auch nicht mehr nach ihnen fragen. Julie merkt, wie ihre Mutter vor Angst zittert.
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In der Schule: Zunächst soll der Unterricht normal weiter gehen. Als Wien bombardiert wird, ist Schluss mit Normalität: Klassen werden zusammengelegt, Räume okkupiert, manchmal gibt es gar keinen Unterricht mehr.
Wenn Ausgebombte anklopfen, bringt ihnen Julie einen Teller Suppe vor die Tür. Bei Bombenalarm müssen alle in den Luftschutzkeller, oft für Stunden. Einmal sogar für 2 Tage. Julie hat Angst. Wann immer sie ein Grollen am Himmel hört, versteckt sie sich: unter der Bettdecke, hinter dem Rockzipfel der Mutter. Sie ist traumatisiert.

Was in dieser Zeit geschah           

Für Sie erreicht

1920

Die konstituierende Nationalversammlung beschließt die neue Verfassung der Republik Österreich. Kärntner Volksabstimmung: Kärnten bleibt bei Österreich

Burgenland Volksabstimmung

Die Notenbank nimmt ihre Tätigkeit auf

Wien wird eigenes Bundesland, große Inflation

26.2.1920: Beschluss des AK Gesetzes. Die Arbeiterkammern sind gegründet. 22. Oktober 1920: Die sozialdemokratischen Minister scheiden aus der Regierung aus.

Notstandsunterstützung, Ferdinand Hanusch stirbt

Anton Weber, der Stadtrat für Sozialpolitik und Wohnungswesen stellt die Mieterschutzreform vor.

Arbeitslosenversicherung und
Arbeitslosenversicherungs-Beirat der Arbeiterkammern

1921
1922
1923
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1924

Radio in Österreich

Einführung des Schillings als neue Währung. 1 Schilling entspricht 10.000 Papierkronen. Ende der galoppierenden Inflation in Österreich. 

Linzer Programm der Sozialdemokratie. Ende der Völkerbundkontrolle über Österreich

Arbeiterdemonstration gegen den Freispruch der Mörder von Schattendorf; Brand des Wiener Justizpalastes, 90 Tote. 

1923 bis 1925: Die Arbeitslosigkeit steigt.

Der „Jugendbeirat“ der Wiener AK wird gegründet. 

Hermann Leopoldi: Die schöne Adrienne

1925
1926
1927
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Die Jugendorganisationen der sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften sowie sozialdemokratische und katholische Jugendorganisationen sind vertreten – unter anderem durch zwei spätere Sozialminister: Anton Proksch und Grete Rehor. Das „Jugendparlament der Ersten Republik“ ist wesentlich an der Durchsetzung von Fortschritten bei der Lehrlingsgesetzgebung beteiligt. Es hilft aber auch entscheidend bei der Lehrlingsschutz- und Unterstützungstätigkeit der AK, vor allem für arbeitslose Jugendliche. 
In der AK Wien wird ein Referat für Frauenarbeit eingerichtet. Käthe Leichter übernimmt die Leitung.
1930
1929

New Yorker Börsenkrach, Weltwirtschaftskrise

Eröffnung des Wiener Praterstadions, von und mit Anna Boscheks Film "Frauenleben Frauenlos."

Ausschaltung des Parlaments; Dollfuß beginnt unter Berufung auf ein Gesetz aus dem Ersten Weltkrieg autoritär zu regieren.
Wiedereinführung der Todesstrafe

Alle demokratischen Einrichtungen werden mit Hilfe von „Notverordnungen“ ausgeschaltet, auch die AK.

Mai 1930: erstes Sozialversicherungsvolksbegehren. 

Fussballspiel Österreich:Ungarn 8:2

"Frauenleben-Frauenlos"

Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal"
1932
1931
1933
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Obwohl mehr als 1 Million Österreicher das Sozialversicherungs-Volksbegehren unterschreibt, bleibt es erfolglos. Die Aktion „Jugend in Not“ soll den immer mehr werdenden arbeitslosen Jugendlichen helfen. Später wird die Aktion zu „Jugend am Werk“ mit Arbeits- und Schulungsmöglichkeiten ausgeweitet
1935
1934

Ende der Parlamentarischen Demokratie, 12. Februar: Bürgerkrieg in Österreich

An der Wiener Staatsoper findet der erste Opernball statt.

Bubi Bradl überspringt erstmals die 100m-Marke im Skisprung

Ein Großbrand vernichtet die Wiener Rotunde im Prater.

Einmarsch der Deutschen Truppen in Österreich
Deutsche Arbeitsfront (DAF) mit Führerprinzip.

Die Allgemeine Bundesdienstpflicht wird eingeführt (vom 18.-42. Lebensjahr)

1. April: Erster Transport verhafteter Österreicher in das KZ Dachau, darunter prominente Politiker der späteren Zweiten Republik wie Leopold Figl, Alfons Gorbach, Viktor Matejka, Franz Olah und Robert Danneberg.

1936
1937
1938
1941
1939

17. März: Wien wird erstmals Angriffsziel von Fliegerbomben.

Moskauer Deklaration

Kriegsbeginn (1. September 1939), Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, Niederlage Hitler-Deutschlands, Befreiung Österreichs

"Kriegsunwichtige" Betriebe werden geschlossen; die Ordensfrau Helene Kafka, Schwester Restituta, wird wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet. 

Ermordung von Käthe Leichter in der Nähe des NS-Konzentrationslages Ravensbrück

verstärkte Aktivitäten von Widerstandszellen in den Betrieben (Sabotage)

1942
1943
1944
1945

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48
STUNDEN (ARBEITSZEIT PRO WOCHE)
1
WOCHE (BEZAHLTER URLAUB)
59
SCHILLING (LOHN PRO WOCHE, UM 1926)
22
GROSCHEN (PREIS PRO KG KARTOFFELN, 1945)
25
GROSCHEN (PREIS PRO STRASSENBAHN-FAHRSCHEIN, 1945)

Ferdinand Hanusch

„Mir wurde (...) gesagt, dass es Arbeiter gibt, besonders in der Eisenindustrie, die die ganzen zwölf Stunden nicht Zeit haben, einen Bissen Brot zu sich zu nehmen, wo die Frau neben dem Mann auf dem Arbeitsplatz steht und den Mann füttert wie ein kleines Kind! Da hat man den Mut, den Achtstundentag abzulehnen, zu sagen, der Arbeiter könne es auch zwölf Stunden aushalten. Vielleicht verdient ein solcher Arbeiter mehr als etwa ein Textilarbeiter. Aber hat er von dem besseren Lohn etwas, wenn er in den besten Jahren seinen Kindern entrissen wird? Wo die anderen sich des Lebens am meisten erfreuen, sinkt er in die Grube.“

Grundsatzreferat „Parlament und Arbeitsschutz“, 1913 
Ferdinand Hanusch, Textilgewerkschafter, Staatssektretär für soziale Fürsorge und sozial Verwaltung von 1918-1920, Erster Sekretär (Direktor) der AK Wien