Kapitelübersicht:
Kapitel 1: Vor Gründung der Arbeiterkammern
Kapitel 2: Zwischen den Kriegen
Kapitel 3: Unmittelbarer Wiederaufbau
Kapitel 4: Wirtschaftsaufschwung
Kapitel 5: Die 70er und 80er
Kapitel 6: 1989 bis heute
Kapitel 7: Ausblick
Kapitel 1: Vor Gründung der Arbeiterkammern
1. Kapitel downloadenIn der Monarchie um 1910
Was in dieser Zeit geschah
Wozu Arbeiterkammern und Gewerkschaften?
Schon 1848: „Wir brauchen Arbeiterkammern!“
Das Leben der Arbeiter ist von überlangen Arbeitszeiten, Hungerlöhnen und unmenschlichen Arbeitsbedingungen gekennzeichnet. Ihre Unzufriedenheit ist groß. Seit 1867 gibt es das Recht auf Vereins- und Versammlungsfreiheit, für die Gründung von Gewerkschaften droht Kerkerstrafe. Daher entstehen Arbeiterbildungsvereine. Nicht nur politische Mitsprache und soziale Verbesserungen, sondern Bildung, Lesen und Schreiben lernen, zählte zu den wichtigsten Forderungen der ArbeiterInnen. 1870 erreichten sie das Koalitionsgesetz, das auch die Strafandrohung bei Gewerkschaftsgründung beseitigte. Seit diesem Zeitpunkt wächst die Zahl der gewerkschaftlichen Fachvereine rasch an.
Während des Revolutionsjahres 1848 schließen sich erstmals Arbeiterinnen und Arbeiter in Österreich zusammen. Sie fordern politische Mitbestimmung, eine geregelte Arbeitszeit, soziale Rechte und Zugang zu Bildung.
Seit 1848 gibt es Handelskammern. Die Forderung nach Arbeiterkammern hat zu diesem Zeitpunkt noch keine Chance. Das erste Arbeiterkammergesetz wird erst am 26. Februar 1920 beschlossen werden.
Die Kollektivverträge sind das wichtigste Instrument, die „Magna Charta“ der Gewerkschaften. Durch den Abschluss von Kollektivverträgen wollen die Gewerkschaften einheitliche und bessere Regelungen für die Arbeiterschaft erreichen. Die ersten, die Kollektivverträge abschließen, sind die Buchdrucker. Sie sind die Pioniere, denen rasch andere Branchen folgen, bis 1920 das Parlament der demokratischen Republik Deutsch Österreich ein eigenes Kollektivvertragsgesetz verabschiedet.
Victor Adler ist eine der prägenden Persönlichkeiten der ArbeiterInnenbewegung. Eines seiner Anliegen ist der Aufbau starker Gewerkschaften. 1893 tagt in Wien der erste Reichskongress der Freien Gewerkschaften Österreichs. Anna Boschek, die Pionierin der gewerkschaftlichen Frauenorganisation und Gewerkschaftssekretär Anton Hueber kämpfen unermüdlich für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Reichskommission der christlichen Gewerkschaften Österreichs wird 1906 gegründet.
Die Verkürzung der Arbeitszeit ist die zentrale Forderung der ArbeiterInnenbewegung. Der Achtstundentag kann aber erst 1918 erreicht werden.
Wie leben die Menschen? Enge Arbeiterquartiere
Familien leben, wohnen und arbeiten auf engstem Raum. Um das Familienbudget ein wenig aufzubessern, werden Betten an sogenannte „Bettgeher“ vermietet, oder noch zusätzlich „Heimarbeit“ angenommen. Mit den niedrigeren Frauenlöhnen wird oft versucht auch die Männerlöhne zu drücken. Kinder finden wenig Zuwendung, viele können weder lesen noch schreiben. Hunger und Krankheiten sind ständige Begleiter.
Das Leben wird immer teurer
Um 1910 kommt es zu hohen Preissteigerungen bei Lebensmitteln. Brot- und Mehlpreise verdoppeln sich, Fleisch ist unerschwinglich. Auch die ständig steigenden Mietpreise sind eine große finanzielle Belastung für die Menschen. Um Kosten zu sparen wird verbotenerweise im Wienerwald Brennholz gesammelt und bei den Bauern der Umgebung Zucker gegen Kartoffeln getauscht.
Findelkinder landen bei Pflegeeltern am Land oder in Waisenhäusern.
Hohe Kindersterblichkeit
Schlechte Ernährung, schlechte Wohnbedingungen und oft auch Kinderarbeit führen zu Mangelerscheinungen, die Säuglingssterblichkeitsrate liegt bei 15 Prozent.
Seit 1869 gibt es die 8jährige Schulpflicht. Fabrikarbeit ist seit 1885 für Kinder bis 14 Jahre verboten. Eingehalten wird das nicht. Die Kinder müssen ihren Beitrag zum Familienbudget leisten, entweder durch Heimarbeit, Gelegenheitsarbeiten in der Stadt oder auf dem Land, oft auch durch Sammeln von verlorenen Kohlestücken oder Kartoffeln auf der Straße oder auch durch Betteln. Viele leiden an chronischer Erschöpfung und Überanstrengung. Wenn überhaupt gibt es Unterricht erst nach der Arbeit. Für Schulsachen ist kein Geld da, auch Schuhe kennen viele Kinder nicht. Erst ab 1917 wird der hohen Sterblichkeitsrate von Säuglingen und Kleinkindern durch die Einrichtung von Mütterberatungsstellen entgegen gewirkt.
Kohleverkauf am Währinger Gürtel
In Wien leben Menschen aus aller Welt. Um 1910 hat die Stadt rund 2 Millionen Einwohner. Während einige Bankiers, Adelige, Baumeister vom Aufschwung profitieren, sind Arbeiter, Dienstboten und Kinder erfinderisch, wie sie karges Familieneinkommen aufbessern können.
Das mechanische Pferd
Manch mutiger Dienstherr nutzt die ersten Autos. Um 1906 werden Kennzeichen ausgegeben. Einige Dienstboten müssen ihre Arbeitszeiten aufzeichnen.
Reformen
Das allgemeine, gleiche, freie Wahlrecht kommt 1907 für Männer und 1918 für Frauen.
Nach dem ersten Weltkrieg geht es für die Arbeiter aufwärts: Arbeitsbücher werden abgeschafft, Kinderarbeit verboten. Lehrlinge werden als Arbeitskraft anerkannt, das Angestellten- und Heimarbeitsgesetz erlassen. Es gibt die Sonn- und Feiertagsruhe, Arbeiter bekommen einen Anspruch auf Urlaub und der 8-Stundentag wird eingeführt. Endlich gibt es Kollektivverträge, Einigungsämter und Betriebsräte.
Die Biographien: Leben Sie den Alltag der Familie mit
Max, Anna und Julie
Max, geboren 1880, Ziegelarbeiter, Tagelöhner
Anna, geboren 1888, Fabrikarbeiterin
Julie, geboren 1896, wird das Erwachsenenalter nicht erleben
Max
Max ist gelernter Weber, er wird in Böhmen geboren. Rundherum herrscht großes Elend. Das Geld reicht hinten und vorne nicht aus, und der Lohn wird aufgrund der vielen Arbeitssuchenden ständig gedrückt. Nach seiner schweren Lehrzeit in einer Weberei im Nachbardorf, lernt Max Anna kennen. Sie verlieben sich und bald wird Anna schwanger. Weil Max weder in seinem Heimatort noch in der Umgebung Arbeit findet, lässt er die schwangere Anna zurück, um in Wien eine neue Existenz für sie aufbauen zu können. Er geht zu Fuß in das 400 km entfernte Wien, nur einen kleinen Rucksack und ein Bild von Anna mit dabei.
Verzweifelt versucht Max einen anständigen Arbeitsplatz zu finden um Anna und dem Kind ein schönes Leben zu ermöglichen. Er versucht alles, nimmt Aushilfsjobs an, versucht sich als Breznschani im Böhmischen Prater und arbeitet als Hilfsarbeiter in den Ziegelfabriken im Süden Wiens. Eine fixe Stelle findet Max nicht. Zunehmend wird ihm klar, dass er nicht das nötige Geld zusammensparen kann, um Anna und das Kind nach Wien holen zu können.
Max übernachtet als „Bettgeher“ bei einer Arbeiterfamilie, die sich durch den Verleih eines Bettes ein Zubrot verdienen will. Gegen Ende des Monats, wenn das Geld schon besonders knapp ist, kommt es vor, dass sich Max so wie viele andere in den unterirdischen Gängen der Wiener Kanalisation einen Schlafplatz sucht. Der Kontakt zu Anna wird immer spärlicher und bald meldet er sich gar nicht mehr.
Mangelhafte Ernährung, fehlende Hygiene und der steigende Alkoholgenuss tragen dazu bei, dass Max bald nicht mehr einer regelmäßigen Arbeit nachgehen kann. Nach einer Verletzung am Fuß entzündet sich die Wunde mehr und mehr. An einem besonders kalten Tag im Jänner 1914 wird Max unter einer Eisenbahnbrücke in der Nähe des Wiener Praters tot aufgefunden. Er ist nur 34 Jahre alt geworden. Sein Kind hat er nie gesehen. Im Sommer dieses Jahres wird der Erste Weltkrieg ausbrechen.
Anna
Anna und Max verlieben sich. Anna wird schwanger, aber das Geld für eine Heirat fehlt. Schon kurz nach der Geburt der Tochter findet Anna Arbeit in einer Galvanisierungswerkstätte in der Stadt. Sie arbeitet mehr als 10 Stunden täglich. Mit dem Geld aus der Fabrik muss Anna auch ihre Geschwister und den verwitweten Vater versorgen. Nach der Fabrik wartet der Haushalt. Hunger ist ständiger Gast und die Kinder besitzen weder Schuhe noch Wintermäntel. Alle versuchen das Familienbudget durch Heimarbeit und Holzsammeln ein wenig zu verbessern. Doch das Holzsammeln ist offiziell verboten. Oft kommt es vor, dass die Frauen und Kinder mit leeren Händen in ihre Wohnungen zurückkehren.
Anna verätzt sich in der Galvanisierungswerkstätte Hände und Gesicht. In der Folge wechselt sie oft die Arbeitsstelle, wie ihrem Arbeitsbuch zu entnehmen ist. Sie hofft, dass Max in Wien Wohnung und Arbeit gefunden hat, hat aber schon lange nichts mehr von ihm gehört. So übersiedelt sie mit ihrer kränkelnden Tochter vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges nach Wien, nicht wissend, dass Max zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist.
Mit Mühe und Not findet sie Arbeit und Unterkunft. Manchmal ist das Geld so knapp, dass sie sich bei öffentlichen Ausspeisungen von Wohltätigkeitsvereinen anstellen muss, um zumindest manchmal für sich und ihr Kind eine warme Mahlzeit zu bekommen. Die kränkelnde Julie stirbt im Alter von 10 Jahren an der „Wiener Krankheit“, der Tuberkulose.
Nach dem 1. Weltkrieg findet Anna in einem Wiener Industriebetrieb Arbeit und profitiert von den neuen sozialen Errungenschaften, wie etwa dem Achtstundentag und dem geregelten Urlaubsanspruch. Sie wird Mitglied eines Konsumvereines. Ihrer Gesundheit zuliebe tritt sie einem Arbeiterinnen-Turnverein bei. Am 1. Mai spaziert sie mit anderen Arbeiterinnen in den Wiener Prater.
Julie
Julie lernt ihren Vater nie kennen. Die Mutter arbeitet viel, in der Nacht hört Julie sie weinen. Spielsachen oder Bücher besitzt sie nicht. Manchmal singt ihr die Mutter, während sie die Kleidung ausbessert, Lieder vor. Julie ist sehr klein und zart, hat sehr oft Fieber und Husten. Ihre Mutter stellt sich oft stundenlang an, um ein wenig Milch als Zusatzration für die kleine Julie zu ergattern. Vergeblich. Julie stirbt im Alter von 10 Jahren an der „Wiener Krankheit“, der Tuberkulose. Eigentlich hatte sie nur davon geträumt, einmal mit dem Ringelspiel im Wiener Prater zu fahren und eine große Portion Zuckerwatte ganz alleine zu essen.
Viele Kinder sind völlig auf sich selbst gestellt. Organisationen wie die Kinderfreunde kümmern sich darum, dass Kinder zumindest einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen. 1916 wird am Laaer Berg der erste „Kinderberg“, eine Tagesheimstätte, eröffnet. Girzenberg, Kobenzl und Schafberg folgen. Trotzdem: Rosige Zukunftsaussichten für ledige Arbeiterkinder wie Julie gibt es nicht. Erst die Sozialgesetzgebung der Ersten Republik wird Verbesserungen bringen.
Kalendarium
Jahr | Was in dieser Zeit geschah | Sozialpolitische Errungenschaften |
1848 | Gründung von Handelskammern mit Pflichtmitgliedschaft. Die Forderung nach Arbeiterkammern ist vergeblich. | |
1859 | Henri Dunant gründet das "Rote Kreuz" nach der Schlacht von Solferino. | Die Gewerbeordnung verbietet Kinderarbeit unter 10 Jahren in Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitskräften. |
1867 | Staatsgrundgesetz | |
1870 | Spatenstich für die Arbeiten an der Donauregulierung in Wien | ab 1870 erste betriebliche Kollektivverträge, Aufhebung des Koalitionsverbotes, Gewerkschaftsgründungen, Streiks und Aussperrungen werden entkriminalisiert. Bisher gab es dafür die Kerkerstrafe. |
1872 | Der Verein „Volksstimme“ verlangt vom Reichsrat (=Parlament) die Errichtung von Arbeiterkammern. Die „Petition“ wird aber abgelehnt. Arbeiterkammern sollen wie die Handelskammern ein Begutachtungsrecht für Gesetzesentwürfe bekommen, die soziale Lage erforschen und dokumentieren und das Recht haben, Abgeordnete in eine neue „Arbeiterkurie“ des Reichstag zu entsenden – wie die Handelskammern in die Unternehmerkurie. | |
1883 | Erste Sitzung im neugebauten Parlament an der Wiener Ringstraße | Einführung von Gewerbeinspektoren zur Kontrolle von Arbeitsbedingungen |
1885 | Der Wiener Gemeinderat bezieht das neue Rathaus an der Wiener Ringstraße. | 11-Stunden-Tag für Fabrikarbeiter: Kinderarbeit und Nachtarbeit von Frauen ist verboten. |
1886 | Dem Parlament wird erstmals der Entwurf eines „Arbeiterkammergesetzes“ vorgelegt. Die meisten Arbeiterorganisationen lehnen den Gesetzesentwurf jedoch ab. Sie wollen keine „Arbeiterkurie“, sondern ein von allen Bürgern demokratisch gewähltes Parlament und eine gesetzliche Interessenvertretung, die mit entsprechenden Rechten ausgestattet ist. | |
1888 | Das Wiener Burgtheater wird eröffnet. | Unfall- und Krankenversicherung für Fabrikarbeiter und Industrieangestellte. |
1890 | Erste große 1. Mai Demonstration in Wien: Gefordert wird der Achtstundentag. | |
1895 | Sonntagsruhe für das Handelsgewerbe | |
1897 | Die Wiener Tramway nimmt ihren Betrieb auf. | |
1898 | Kaiserin Elisabeth "Sissi" wird in Genf ermordet. | |
1899 | Sigmund Freud veröffentlicht die Traumdeutung. | |
1900 | Frauen werden an der MedUni zugelassen. | Neue Währung: die Krone (100 Heller) ersetzt den Gulden. |
1901 | 1. Nobelpreisverleihungen in Oslo und Stockholm | |
1902 | Elektrifizierung der letzten Pferdestraßenbahnlinie in Wien | |
1903 | Gründung der "Wiener Werkstätte" | |
1904 | Am Graben wird eine unterirdische WC-Anlage im Jugendstil errichtet. Diese ist heute noch in Betrieb. | |
1905 | Bertha von Suttner erhält den Friedensnobelpreis, Wahlrechtsdemonstrationen in Wien | Die Arbeitsbücher werden vom Obersten Gerichtshof als unmoralisch erklärt. |
1906 | Erstmals werden in der Monarchie Kennzeichen für Kraftfahrzeuge ausgegeben. | Angestelltenpensionsrecht, Verbot des "Weißen Phosphors" in der Streichholzherstellung. |
1907 | Der Volksgarten in Wien wird eröffnet, das Denkmal für Kaiserin Elisabeth enthüllt. | Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für Männer und erste demokratische Wahlen |
1908 | Fund der “Venus von Willendorf“: In Willendorf an der Donau wird beim Bau der Eisenbahn eine 11 cm große Figur aus Kalkstein gefunden. Die "Venus" ist vermutlich 25.000 Jahre alt. | |
1909 | Erster Flug der "Etrich-Taube“ am Flugfeld von Wiener Neustadt | |
1910 | Bürgermeister Karl Lueger stirbt | |
1911 | Teuerungsdemonstration vor dem Wiener Rathaus, Zusammenstöße in Ottakring | |
1912 | Die "Titanic" sinkt vor der Küste Neufundlands. 1513 Menschen kommen ums Leben. | |
1913 | Positiv verlaufende Erdölbohrungen im Süden von Wien; das Luftschiff von Graf Zeppelin landet. | |
1914 | Der Erste Weltkrieg bricht aus. | Ab 1914 unterliegen Betriebe dem Kriegsdienstleistungsgesetz, soziale Errungenschaften werden wieder aufgehoben: Im "Burgfrieden" verzichtet die Arbeiterbewegung auf die Opposition gegen die Kriegsregierung. |
1916 | Friedrich Adler, der Sohn von Victor Adler ermordet Ministerpräsident Stürgkh. Sein Prozess ist eine Anklage gegen den Krieg. | |
1917 | Streikbewegung der österreichischen Arbeiter; Friedensforderungen. Tschechische Sozialdemokraten fordern im Reichsrat die Errichtung von Arbeiterkammern. Der Metallergewerkschafter Franz Domes und Karl Renner bringen erstmals den Entwurf eines Arbeiterkammergesetzes ein. Es wird aber bis zum Ende des 1. Weltkriegs nicht mehr beschlossen. |
|
1918 | Die 1. Republik wird ausgerufen. | Unter dem Gewerkschafter Ferdinand Hanusch gibt es eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung: Frauenwahlrecht, Beschluss über einen achtstündigen Normalarbeitstag für Fabrikbetriebe, erste Einigungsämter, Kollektivvertragsgesetz, Betriebsrätegesetz, Verbot der Arbeitsbücher. |
1919 | Friedensverträge von St. Germain | Der Kongress der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften fordert kategorisch die Errichtung von Arbeiterkammern als „Schutzschild“ für die sozialen Errungenschaften. Auch die christlichen Gewerkschaften machen sich für die Errichtungen von Arbeiterkammern stark. |
1920 | Die konstituierende Nationalversammlung beschließt die neue Verfassung der Republik Österreich. In der Kärntner Volksabstimmung stimmt Kärnten für den Verbleib bei Österreich. | 26.2.1920: Beschluss des AK Gesetzes. Die Arbeiterkammern werden gegründet. 22. Oktober 1920: Die sozialdemokratischen Minister scheiden aus der Regierung aus. |
Statistik: Arbeitszeit – Urlaubsanspruch – Lohn – kartoffelpreise - Straßenbahnpreise bis 1919
Arbeitszeit | bis zu 60 Stunden | |
Urlaub | kein Urlaubsanspruch | bis 1910 kein gesetzlicher Urlaub außer auf Kollektivvertrags-Basis oder bei Betriebs-vereinbarungen, z. B. 1905 bei Brauereiarbeitern und Fassbindern (5 Tage nach 3 Jahren bzw. 7 Tage nach 5 Jahren) |
Lohn | ||
1 kg Kartoffel kostet | 1,3 Kronen | um 1918 Wucherpreise bis zu 6 Kronen |
1 Straßenbahnfahrschein kostet | 12 Kreuzer (um 1913), |
Zitat
ROBERT OWEN
Der britische Sozialreformer formuliert um 1830 die Forderung „8 Stunden Arbeit – 8 Stunden Freizeit – 8 Stunden Schlaf“. 1889 wird der 1. Mai von der Internationale der Sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zum Weltfeiertag der Arbeit beschlossen. Am 1. Mai 1890 findet in Wien eine große Demonstration statt. Gefordert wird der Achtstundentag.
Kapitel 2: Zwischen den Kriegen
2. Kapitel downloadenÖsterreich zwischen 1920 und 1945
Was in dieser Zeit geschah
Eine sozialpolitische Achterbahn
Ferdinand Hanusch schnürt ein Paket an vorbildlichen Sozialgesetzen. Die Arbeiterkammern haben eine zentrale Stellung als gleichwertige Partnerinnen der Handelskammern. Gemeinsam sollen wichtige Aufgaben gelöst werden.
Die Arbeitslosenversicherung ist eine der großen Erfolge aus der sozialpolitischen Offensive zu Beginn der Republik. Lehrlinge erhalten eine „Entschädigung“. Im Lauf der 20er Jahre verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage mehr und mehr, Inflation und Währungskrise führen zu einer steigenden Arbeitslosigkeit. In Wien versucht die Stadtregierung mit einem ehrgeizigen Wohnbauprogramm und einem sozialen Fürsorgenetz auch der prekären Gesundheitssituation entgegen zu wirken.
Die Arbeiterkammern sollen den „Gewerkschaften ein Apparat sein, die Wirtschaft zu durchleuchten, sozialpolitisch das Gestrüpp gesetzlicher Einrichtungen zu durchdringen und arbeitsrechtlich alles verteidigen zu helfen.“ Dem Wiener Präsidenten Franz Domes steht als erster Sekretär Ferdinand Hanusch zur Seite, der auch die gesamtösterreichischen Aufgaben koordiniert.
Wie lebt es sich zwischen zwei Weltkriegen?
Beengt leben viele Menschen auf engem Raum. Wasser gibt es nur am Gang, die Toiletten teilen sich alle Bewohner eines Stockwerks. Es ist feucht, stickig, und es stinkt. Trotzdem ist das Wohnen so teuer, dass manch einer tagsüber sein Bett vermietet. Oft wird in den Wohnungen Heimarbeit geleistet. Zur Wohnungsnot kommt die Arbeitslosigkeit. Der größte Fortschritt ist der Mieterschutz. Der Mietzins wird fixiert. 1922 wird „das rote Wien“ ein eigenes Bundesland.
Arbeiterbildung ist wichtig
AK Kurse oder Vorträge in Volkshochschulen sind gut besucht; Büchereien florieren. Fritz Brügel als Leiter der AK Bibliothek kann sogar Professor Hans Kelsen, den Autor der österreichischen Verfassung, als Referent für AK Kurse gewinnen. In den Gemeindebauten gibt es die beliebten Arbeiterbüchereien.
Leben und Freizeit im Gemeindebau.
Die Wiener Stadtregierung führt die kommunale Wohnbausteuer ein und baut zwischen 1925 und 1934 mehr als 60.000 Gemeindewohnungen: Metzleinstaler Hof, Karl-Marx-Hof, Sandleitenhof, Reumannhof. Alle Bewohner können die Gemeinschaftseinrichtungen nutzen: Bäder, Büchereien, Waschküchen, Gesundheitseinrichtungen.
Für Wienerinnen und Wiener wird die Freizeit bunter. Es werden Sportstätten gebaut, der Arbeitersportklub gegründet. Die Kinderfreunde betreiben Kindergärten und Horte, die Roten Falken betreuen Schulkinder in den Ferien. Theater und Konzerte beleben die Kulturlandschaft. Die Arbeiterzeitung erlebt eine Hochblüte und in den Gemeindebauten sind Hausvertrauensleute die Ansprechpersonen für alle Bewohner.
Gesundheit
In den Gemeindebauten werden Mütterberatungsstellen und Zentren für die Gesundheitsfürsorge eingerichtet. Für jeden neu geborenen Säugling gibt es ein Wäschepaket. Um Schulkinder kümmern sich Schulärzte und Schulzahnärzte. Die Stadt Wien kauft als erst dritte Stadt weltweit Radium, damit im Krankenhaus Lainz Krebskranke bestrahlt werden können. Kinder berufstätiger Mütter sind im Hort, in Kindergärten und Kinderfreibädern gut betreut. Der Verwahrlosung der Kinder auf der Straße wird auf diese Weise vorgebeugt.
Im Ständestaat
Die politische Lage in der ersten Republik ist konfliktreich. 1933 schaltet Bundeskanzler Dollfuß das Parlament aus und regiert mit Notverordnungen. Dem Verbot der Kommunisten folgt nach dem Scheitern des Februaraufstandes das Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften. Ab 1934 gibt es eine ständische Verfassung. Die Demokratie ist abgeschafft.
1939 – 1945
1938 marschieren deutsche Truppen in Österreich ein. Österreich ist nicht mehr selbstständig. Jetzt gibt es die Deutsche Arbeitsfront, die nach dem Führerprinzip organisiert ist. Die Arbeiterkammern werden aufgelöst. Dem NS-Terror fallen zahlreiche Gewerkschafter zum Opfer.
Käthe Leichter: Leiterin der ersten AK-Frauenabteilung, Untergrundkämpferin, Oppositionelle, Jüdin, ermordet 1942 in Bernburg
Johann Staud: Vorsitzender der christlichen Textilarbeitergewerkschaft, ab 1938 KZ-Haft in Dachau, 1939 Tod als Folge der brutalen KZ-Haft
Josef Kittl organisierte Hilfe für die Familien eingekerkerter Oppositioneller, KZ-Haft, Todesurteil, Begnadigung. später AK-Vizepräsident in Salzburg
Karl Maisel wird nach dem Scheitern des Aufstands gegen die Diktatur im Februar 1934 im „Anhaltelager“ Wöllersdorf inhaftiert. 1939/40 ist er im KZ Buchenwald, 1944 in Gestapohaft. Sozialminister von 1945 bis 1956, dann bis 1964 AK-Präsident.
Wilhelmine Moik ist Widerstandskämpferin in den illegalen Freien Gewerkschaften und der „Sozialistischen Arbeiterhilfe“. Sie wird verhaftet und kommt in Gestapo-Haft. Ab 1945 baut sie die ÖGB-Frauenabteilung auf.
Die Biographien: Leben Sie den Alltag der Familie mit
Max, Anna und Julie
Max geboren 1912, Elektromechaniker
Anna, geboren 1914, Hilfsarbeiterin
Julie, geboren 1938
Max
Max ist das erste von fünf Kindern. Er lebt mit seinen Eltern in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung. Die Mutter hat die Kinder mit Wäschewaschen durch den Krieg gebracht. Er geht in eine fünfklassige Volksschule, dann in eine dreiklassige Bürgerschule und ist ein sehr guter Schüler. Mit seinen Freunden spielt er liebend gern Fußball mit dem Fetzenlaberl. Nach langem Suchen finden seine Eltern für ihn eine Lehrstelle als Elektromechaniker in einem großen Betrieb. Dieser ist gewerkschaftlich organisiert, hat einen Betriebsrat und einen Lehrlingsvertrauensmann. Natürlich wird Max auch Gewerkschaftsmitglied und kommt so gesellschaftlichen und politischen Themen näher. Als der Justizpalast brennt, darf er als Lehrling nicht mit den anderen Arbeitern Richtung Innenstadt marschieren.
Viele seiner Fußballfreunde haben nicht das Glück gute Arbeitsverhältnisse kennen zu lernen. Sie hanteln sich von einer kurzfristigen Arbeit zur anderen, getrennt durch oft sehr lange Zeiten der Arbeitslosigkeit und verdienen schlecht. 600.000 Arbeitslose gibt es 1934, nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen bekommt Arbeitslosengeld. Alle anderen sind „ausgesteuert“ – ohne Unterstützung.
Auch Max ist einmal kurz arbeitslos, er hat aber Glück und findet schon 6 Wochen später eine neue Stellung. Mittlerweile ist er Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und bei einer Reihe von Freizeitvereinen. Er besucht regelmäßig die neuen AK Kurse, bildet sich auf vielen Gebieten fort. In der Arbeiterbücherei liest er unentgeltlich Kindern vor und lernt dabei Anna kennen.
Anna
Anna will Stenotypistin werden, wie ihre beste Freundin. Die Arbeit stellt sie sich interessant vor. Nur leider findet sie keine Stelle und muss als Arbeiterin in einer Textilfabrik arbeiten. Diese Arbeit ist anstrengend. Wie bei ihren Kolleginnen auch brennen oft die Augen, schmerzt der Rücken. Es kommt vor, dass sie in der Nacht auch nicht schlafen kann, weil sie immer noch den Lärm der Maschinen hört. Anna besucht am Abend Arbeiterkurse im Volksheim, vor allem in Ottakring und geht mit ihren Freundinnen in den Arbeitersportverein. Auf den Urlaub freut sie sich besonders: Eine ganze Woche darf sie zu Hause bleiben und bekommt trotzdem ihren Lohn bezahlt!
Zu Beginn leben die Anna und Max in einer Einzimmerwohnung, später bekommen sie eine Wohnung im Gemeindebau. Anna liest weiterhin sehr viel, ist sportlich und nimmt 1931 an der Arbeiterolympiade teil. 1933 kommt ihr erstes Kind zur Welt, 1936 das zweite. Julie wird 1938 geboren. Die Familie kommt gerade so über die Runden. Manchmal schickt Anna ihren ältesten Sohn ins Geschäft Lebensmittel einkaufen. Dabei muss er anschreiben lassen. Anna ist es nicht unrecht, dass sie später in der Rüstungsindustrie Arbeit findet und Geld verdient. Denn auch Max muss an die Front.
Julie
In der Schule: Zunächst soll der Unterricht normal weiter gehen. Als Wien bombardiert wird, ist Schluss mit Normalität: Klassen werden zusammengelegt, Räume okkupiert, manchmal gibt es gar keinen Unterricht mehr.
Schlimm ist für die Kinder, dass sie plötzlich mit manchen ihrer alten Freunde nicht mehr spielen dürfen. Eines Tages sind diese dann ganz weg, und Julie hört nichts mehr von ihnen. Sie darf auch nicht mehr nach ihnen fragen. Julie merkt, wie ihre Mutter vor Angst zittert.
Julie kann sich nicht an ihren Vater erinnern. Er war im Krieg, sie mit ihrer Mutter und den älteren Geschwistern daheim in Wien. Oft gehen sie in den Wienerwald um Beeren zu pflücken. Sie klopfen bei Bauern an um zu tauschen. Anna versucht, immer einen Topf mit heißer Suppe am Herd stehen zu haben. Da gibt’s dann ein Brot dazu, und Kartoffeln, manchmal auch Steckrüben. Wenn Ausgebombte anklopfen, bringt ihnen Julie einen Teller Suppe vor die Tür. Bei Bombenalarm müssen alle in den Luftschutzkeller, oft für Stunden. Einmal sogar für 2 Tage. Julie hat Angst. Wann immer sie ein Grollen am Himmel hört, versteckt sie sich: unter der Bettdecke, hinter dem Rockzipfel der Mutter. Sie ist traumatisiert.
Kalendarium
Jahr |
Was in dieser Zeit geschah |
Sozialpolitische Errungenschaften |
1921 | Burgenland Volksabstimmung | Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenversicherungs-Beirat der Arbeiterkammern. Anton Weber, der Stadtrat für Sozialpolitik und Wohnungswesen stellt die Mieterschutzreform vor. |
1922 | Wien wird eigenes Bundesland, große Inflation | |
1923 | Die Notenbank nimmt ihre Tätigkeit auf | Notstandsunterstützung, Ferdinand Hanusch stirbt. |
1924 | Radio in Österreich | Der „Jugendbeirat“ der Wiener AK wird gegründet. Die Jugendorganisationen der sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften sowie sozialdemokratische und katholische Jugendorganisationen sind in vertreten – unter anderem durch zwei spätere Sozialminister: Anton Proksch und Grete Rehor. Das „Jugendparlament der Ersten Republik“ ist wesentlich an der Durchsetzung von Fortschritten bei der Lehrlingsgesetzgebung beteiligt. Es hilft aber auch entscheidend bei der Lehrlingsschutz- und Unterstützungstätigkeit der AK, vor allem für arbeitslose Jugendliche. |
1925 | Einführung des Schillings als neue Währung. 1 Schilling entspricht 10.000 Papierkronen. Ende der galoppierenden Inflation in Österreich. | 1923 bis 1925: Die Arbeitslosigkeit steigt. In der AK Wien wird ein Referat für Frauenarbeit eingerichtet. Käthe Leichter übernimmt die Leitung. |
1926 | Linzer Programm der Sozialdemokratie. Ende der Völkerbundkontrolle über Österreich | |
1927 | Arbeiterdemonstration gegen den Freispruch der Mörder von Schattendorf; Brand des Wiener Justizpalastes, 90 Tote. | |
1929 | New Yorker Börsenkrach, Weltwirtschaftskrise | |
1930 | Mai 1930: erstes Sozialversicherungsvolksbegehren. Obwohl mehr als 1 Million Österreicher das Sozialversicherungs-Volksbegehren unterschreibt, bleibt es erfolglos. Die Aktion „Jugend in Not“ soll den immer mehr werdenden arbeitslosen Jugendlichen zu helfen. Später wird die Aktion zu „Jugend am Werk“ mit Arbeits- und Schulungsmöglichkeiten ausgeweitet. | |
1931 | Eröffnung des Wiener Praterstadions Film "Frauenleben-Frauenlos" von und mit Anna Boschek |
Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" |
1932 | Fussballspiel Österreich:Ungarn 8:2 | |
1933 | Ausschaltung des Parlaments; Bundeskanzler Dollfuß beginnt unter Berufung auf ein Gesetz aus dem Ersten Weltkrieg autoritär zu regieren. Wiedereinführung der Todesstrafe in Österreich | Alle demokratischen Einrichtungen werden mit Hilfe von „Notverordnungen“ ausgeschaltet, auch die AK. Die Arbeitslosigkeit erreicht ihren Höchststand: rund 600.000 Arbeitslose (26%), von denen nur rund 65 % noch Arbeitslosenunterstützung erhalten. AK-Präsidenten werden durch staatlich bestellte Verwaltungsräte ersetzt. |
1934 | Ende der Parlamentarischen Demokratie, 12. Februar: Bürgerkrieg in Österreich | |
1935 | An der Wiener Staatsoper findet der erste Opernball statt. | |
1936 | Bubi Bradl überspringt erstmals die 100m-Marke im Skisprung | Die Allgemeine Bundesdienstpflicht wird eingeführt (vom 18.-42. Lebensjahr) |
1937 | Ein Großbrand vernichtet die Wiener Rotunde im Prater. | |
1938 | Einmarsch der Deutschen Truppen in Österreich Deutsche Arbeitsfront (DAF) mit Führerprinzip. |
1. April: Erster Transport verhafteter Österreicher in das KZ Dachau. Unter ihnen befinden sich prominente Politiker der späteren Zweiten Republik wie Leopold Figl, Alfons Gorbach, Viktor Matejka, Franz Olah und Robert Danneberg. |
1939 | Kriegsbeginn (1. September 1939), Ausbruch des Zweiten Weltkriegs | |
1941 | verstärkte Aktivitäten von Widerstandszellen in den Betrieben (Sabotage) | |
1942 | Ermordung von Käthe Leichter in der Nähe des NS-Konzentrationslages Ravensbrück | |
1943 | Moskauer Deklaration | "Kriegsunwichtige" Betriebe werden geschlossen. Die Ordensfrau Helene Kafka, Schwester Restituta, wird wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet. |
1944 | 17. März: Wien wird erstmals Angriffsziel von Fliegerbomben. | |
1945 | Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, Niederlage Hitler-Deutschlands, Befreiung Österreichs |
Statistik: Arbeitszeit – Urlaubsanspruch – lohn – Kartoffelpreise – Straßenbahnpreis: 1921-1944
Arbeitszeit | 48 h / Woche (6-Tage-Woche) | |
Urlaub | 1 Woche (48h) | Quelle: Arbeiterurlaubsgesetz |
Lohn | 58,80 Schilling / Woche (1926) | Günther Chaloupek: Arbeiterverdienste 1926 - 1975, S. IV/15 |
1 kg Kartoffel kostet | 22 Groschen (1945) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
1 Straßenbahnfahrschein kostet | 25 Groschen (1945) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
Zitat
FERDINAND HANUSCH
„Mir wurde (...) gesagt, dass es Arbeiter gibt, besonders in der Eisenindustrie, die die ganzen zwölf Stunden nicht Zeit haben, einen Bissen Brot zu sich zu nehmen, wo die Frau neben dem Mann auf dem Arbeitsplatz steht und den Mann füttert wie ein kleines Kind! Da hat man den Mut, den Achtstundentag abzulehnen, zu sagen, der Arbeiter könne es auch zwölf Stunden aushalten. Vielleicht verdient ein solcher Arbeiter mehr als etwa ein Textilarbeiter. Aber hat er von dem besseren Lohn etwas, wenn er in den besten Jahren seinen Kindern entrissen wird? Wo die anderen sich des Lebens am meisten erfreuen, sinkt er in die Grube.“
aus: Grundsatzreferat „Parlament und Arbeitsschutz“, 1913.
Ferdinand Hanusch, Textilgewerkschafter, Staatssekretär für soziale Fürsorge und sozial Verwaltung von 1918-1920, Erster Sekretär (Direktor) der AK Wien
Kapitel 3: Unmittelbarer Wiederaufbau
3. Kapitel downloadenÖsterreich zwischen 1945 und 1955
Was in dieser Zeit geschah
Gewerkschaftsgründung & Sozialpartnerschaft
Noch im April 1945 treffen sich Gewerkschafter aller Fraktionen und gründen einen einheitlichen Österreichischen Gewerkschaftsbund. Nur zwei Tage später findet schon die Gründungskonferenz statt. Jetzt muss das Sozialsystem wieder aufgebaut und das Arbeits- und Sozialrecht demokratisiert werden. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist die Wiedererrichtung der Arbeiterkammern als Instrumente der wirtschaftlichen und sozialen Demokratie am 20. Juli 1945.
Die junge Demokratie soll durch soziale Spannungen nicht belastet werden. Die Wirtschafts- und Sozialpartner werden in dieser Phase des Wiederaufbaus als speziell österreichisches Konfliktregelungsinstrument eingerichtet. Das Nebeneinander von Pflichtmitgliedschaft in den Kammern und den freien Interessenvertretungen bei Gewerkschaft und Industriellenvereinigung ermöglichte die Effizienz dieses Konfliktregelungsinstruments.
Insgesamt fünf Preis- und Lohnabkommen schaffen es, schrittweise zu einer geordneten Preisgestaltung zu kommen und die Einkommen an die steigenden Lebenshaltungskosten anzugleichen.
Da es in der Nachkriegszeit einen akuten Mangel an Wohngelegenheiten für Lehrlinge gibt, wird von der Arbeiterkammer im 4. Bezirk das Franz Domes-Jugendwohnheim errichtet.
Wie kommen Alltag, Leben und Arbeit wieder in Gang?
Große Not herrscht in Österreich. Ohne ausländische Hilfe können die Menschen in diesem Land nicht überleben. Es fehlt an allem. Lebensmittel sind rationiert. Vor allem Frauen, die mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg vom Arbeitsmarkt verdrängt werden, stehen stundenlang vor Ausgabestellen an. Kleidung und Schuhe sind rar und kostbar. CARE-Pakete tragen zum Überleben bei.
Mit der Währungsreform kommt der Schilling zurück
Mit dem Schillinggesetz vom 30. November 1945 ist der Schilling wieder gesetzliches Zahlungsmittel. Der Umtausch von Reichsmarknoten ab 10 Mark und alliiertem Militärgeld erfolgt im Verhältnis 1:1. Aber nur 150 Schilling werden ausgezahlt. Der Rest wird auf ein „Sperrkonto“ gutgeschrieben. 1947 werden die Banknoten aus dem Jahr 1945 eingezogen und in neue Schillingnoten im Verhältnis 3 zu 1 umgetauscht. Die Währungsreform gelingt.
Im April 1945 wird die Republik Österreich ausgerufen. Karl Renner ist Kanzler einer provisorischen Regierung. Im November 1945 finden die ersten Wahlen statt. Parlament und Regierung können nicht frei entscheiden, die Besatzungsmächte behalten bis 1955 die letzte Entscheidungsgewalt.
Wirtschaft und Verstaatlichtengesetz
Fast die gesamte österreichische Industrie geriet nach dem Anschluss in deutschen Besitz und war jetzt Kriegsbeute. 291 Betriebe mit 52.000 Beschäftigten sind nach dem Krieg im USIA Konzern zusammen gefasst. Der zahlt weder Steuern noch Sozialversicherungsabgaben an den österreichischen Staat. Der Nationalrat beschließt unter anderem die Verstaatlichung von Energiewirtschaft, Erdölproduktion und Eisenhüttenindustrie. Aber anders als die westlichen Besatzungsmächte beharren die Sowjets auf dem Übergang der Vermögenswerte in sowjetischen Besitz. Es ist ein riesiger Erfolg, dass sie nicht auf der Annullierung des Verstaatlichtengesetzes beharren, sondern es „nur“ nicht anerkennen. Der Schwarzmarkt wird langsam eingedämmt.
Meilenstein ASVG
Schrittweise treten die neuen Sozialgesetze in Kraft. So unterstützt die Sozialversicherung unser Leben lang: vom ersten bis zum letzten Tag, von der Geburt über Krankheit, Karenz, Unfall oder Pflegebedürftigkeit bis hin zur Pension.
Der Kern ist die Pflichtversicherung. Seit 1948 beruht die Sozialversicherung auch wieder auf dem Prinzip der Selbstverwaltung durch Vertreter der Versicherten selbst. Das ASVG fasst die Kranken-, Unfall und Pensionsversicherung für die Arbeiter und Angestellten in Industrie, Bergbau, Gewerbe, Handel, Verkehr und Land- und Forstwirtschaft zusammen und sorgt auch dafür, dass alte Menschen krankenversichert sind.
Im Bereich der Mitbestimmung verbessern Kollektivvertragsgesetz und Betriebsrätegesetz die Interessenvertretung der Beschäftigten. Bis 1950 hat der ÖGB fast 1,3 Millionen Mitglieder.
Wiener Kinder
An erster Stelle steht die Ernährung. Besonders durch die Schwedenausspeisung, bei der Kinder regelmäßig Nahrhaftes zu essen bekommen, verbessert sich das Leben für die Kinder in Wien. 64 Prozent aller männlichen Jugendlichen in Wien sind unterernährt. Die Arbeiterkammer Wien, später der ÖGB, betreibt eine Jugendfürsorgestelle. Hier können sich die jungen Leute satt essen. Die Wiener Kinderfreunde organisieren Kindergruppen, Ausspeisungen, fahren auf Ferienlager und sorgen dafür, dass die jüngsten Wienerinnen und Wiener schon ein Jahr nach Kriegsende ein kleines Geschenk – ein Buch – zu Weihnachten bekommen. Besonders unterernährte Kinder werden von Wohlfahrtsorganisationen für einige Monate bis zu einem Jahr ins europäische Ausland geschickt.
Erst ab 1948 verbessert sich die Versorgung.
Die Biographien: Leben Sie den Alltag der Familie mit
Max, Anna und Julie
Max, geboren 1920, Eisengießer
Anna, geboren 1921, Telefonistin
Julie, geboren 1940, ein „Spanienkind“
Max
1941 wird Max eingezogen. Er erlebt das Kriegsende in Holland und macht sich zu Fuß auf den Weg zurück nach Hause. In Deutschland gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im März 1946 entlassen wird. Zurück in Wien erkennt er seine Tochter Julie kaum wieder. Er hat sie nur bei einem Fronturlaub gesehen. Mit Anna tut er sich jetzt schwer. Sie nimmt keine Rücksicht auf ihn, ist ihm zu selbstständig. Wie zahlreiche Wienerinnen und Wiener räumt Max Schutt weg ehe er wieder Arbeit als Eisengießer in Hernals findet. Dort ist er eingebunden ins Betriebsleben und findet allmählich wieder in ein geregeltes Leben – auch mit Frau und Kind – zurück.
Max hat wieder Arbeit gefunden. Zu kaufen gibt es kaum etwas, die Kriegsschäden sind noch überall sichtbar tonnenweise Schutt, provisorisch reparierte Brücken über die Donau. In die Arbeit geht Max zu Fuß, denn Straßenbahnen fahren nur streckenweise. Die Stadtbahn funktioniert und auch Kanal- und Wasserversorgung verbessern sich zunehmend. Langsam steigen die Lebensmittelrationen. Aber nach dem Kältewinter von 1947 rät der Arzt der Familie Julie nach Spanien zu schicken. Max stimmt sofort zu. Für ihn geht Gesundheit seines einzigen Kindes über alles.
Anna
1946 verdient Anna 160 Schilling im Monat. Dafür bekommt sie 2 kg Fleisch. Sie arbeitet während des Krieges als Telefonistin in der Post – und Telegraphenanstalt. Als verheiratete Frau verliert sie nach Ende des Krieges ihre Arbeit und muss sich eine neue Stelle suchen. Es ist Alltag, nach der Arbeit vor Geschäften anzustehen. Alles ist rationiert: Es gibt Lebensmittelmarken, Kleiderkarten, Eier- und Kaffeemittelkarten, Erdäpfel- und Milchkarten. Heizmaterial ist kaum zu bekommen. Anna sucht in ihrer Verzweiflung Mütterberatungsstellen, Großküchen und Wohlfahrtsorganisationen auf. Sie ist dankbar, dass aus dem Ausland Spenden kommen, die sie und ihre Familie überleben lassen. Als ihr bei der Fürsorgestelle der Arzt rät, ihre Tochter Julie für ein Jahr nach Spanien zum Aufpäppeln zu schicken, bricht beinahe eine Welt zusammen. Sie macht sich große Sorgen über die Zukunft ihres Kindes. Von Max lässt sie sich überreden, Julie nach Spanien zu schicken.
Während Julie in Spanien versorgt ist, besucht Anna eine Umschulung zur Näherin. Langsam findet sie auch mit Max wieder eine gemeinsame Basis. Sie hat mit ihren Kolleginnen aus der Post- und Telegraphenanstalt immer noch Kontakt und auch zu gewerkschaftlich organisierten Frauen. Diese haben dafür gesorgt, dass berufstätige Frauen nicht mehr stundenlang vor Geschäften anstehen müssen, sondern an den Schlangen vorgelassen werden, wenn sie ihren Gewerkschaftsausweis vorzeigen. Während Anna wieder Arbeit gefunden hat, bleiben einige ihrer Freundinnen arbeitslos. Durch die Einführung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes werden sie aber zumindest ab 1949 eine Geldleistung als Unterstützung bekommen. Als Julie aus Spanien zurückkehrt, bekommt die Familie auch Kinderbeihilfe. Die Lebenssituation von Annas Mutter verbessert sich ebenfalls: Als Witwe bekommt sie eine Rente.
Julie
1948: Julie ist 8 Jahre alt. Sie wiegt 20 Kilogramm, ist unterernährt und hat Tuberkulose. Anna und Max haben ihre Tochter gerade zum Westbahnhof gebracht. Sie soll zusammen mit 500 anderen Kindern das nächste Jahr in Spanien verbringen. Anna weint bittere Tränen. Nur mit äußerster Mühe hat sie Julie durch den Kältewinter von 1947 gebracht. Wenn das Kind überleben soll, hat der Arzt gesagt, dann muss sie ins Ausland. Am besten für ein Jahr mit der Caritas nach Spanien. Schweren Herzens stimmt Anna zu. Max hingegen hatte nicht lange gezögert. Die Gesundheit seiner Tochter ist ihm viel wert. Mit dem Zug sind die Spanienkinder mehrere Tage unterwegs, dann lernt Julie ihre Pflegefamilie kennen. Es dauert nicht lange, und Julie spricht ausgezeichnet Spanisch und hat in der neuen Schule viele Freundinnen gefunden.
Ein Jahr später kommt Julie zurück. Ein Kärtchen um den Hals, warm angezogen, mit eigener Haube und Schuhen. Ihre Puppe und das schöne Kleid, das sie von der Pflegemutter bekommen hat, trägt sie als Schatz in ihrem Köfferchen. Sie lacht, ist gesund und wiegt 12 Kilo mehr als noch vor einem Jahr.
Der Abschied von der Pflegefamilie ist Julie schwer gefallen. Jetzt spricht sie fast ausschließlich Spanisch und erinnert sich kaum mehr an ihre Wiener Zeit. Wie wird sie sich mit ihren richtigen Eltern verstehen? Wie wird die Schule? Wird sie Freundinnen finden, mit denen sie im Park spielen kann?
Hilfe aus dem Ausland
Aus der Schweiz kommen Lebensmittel und Medikamente. Über die Wohlfahrtsämter werden CARE Pakete mit Lebensmitteln, Decken, Medikamenten und Dingen für den täglichen Gebrauch an Waisen, besonders bedürftige Familien und auch an Alte verteilt.
Um die Drei- bis Sechsjährigen kümmern sich ganz besonders die Schweden. 26.000 Kinder bekommen zwei Monate lang täglich ein hochwertiges Mittagessen. Die Schweden nennen es "Suppe", es ist aber eine Mahlzeit aus Fleisch, Butter, Speck und andere wertvolle Nahrungsmittel. Die ÖsterreicherInnen haben so etwas schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Acht Millionen Portionen werden in einem Jahr verteilt. Nach Ende des zweimonatlichen Ausspeisungsturnus bekommen die Kinder noch jede zweite Woche Trockenmilch.
Ab Anfang der 50er Jahre haben die Wienerinnen und Wiener das Schlimmste überstanden.
Freizeit Anfang der 50er
Max und Anna können es sich jetzt leisten, manchmal ins Kino zu gehen. Besonders gut gefallen ihnen die Filme mit Hans Moser und Paul Hörbiger. „Hallo Dienstmann“ hat es ihnen besonders angetan. Sie ziehen in eine neu gebaute moderne Wohnung am Stadtrand: in die Per-Albin-Hanson-Siedlung. Als im Fußball die österreichische Nationalmannschaft bei den Weltmeisterschaften 1954 in der Schweiz den 3. Platz belegt, ist Max hellauf begeistert.
Kalendarium
Jahr | Was in dieser Zeit geschah | Sozialpolitische Errungenschaften |
1945 | Hiroshima und Nagasaki, Niederlage Hitler-Deutschlands, Befreiung Österreichs
Karl Renner spricht zur Gründung der Zweiten demokratischen Republik Österreichs |
Die Feiertage werden festgelegt. Rechtsüberleitungsgesetz des österreichischen Sozialrechts, Wiedergründung von AK & ÖGB |
1946 | Wien hungert: erst ab Ende 1947 steigen die Lebensmittelrationen. | Arbeiterurlaubsgesetz: Anspruch auf 12 Tage nach 1 Dienstjahr, auf 18 Tage nach 5 Dienstjahren, auf 24 Tage nach 15 Dienstjahren |
1947 | Das Wiener Riesenrad wird nach den Renovierungsarbeiten wieder in Betrieb genommen. | Sozialversicherungs- Kollektivvertrags-, Betriebsräte- und Arbeitsinspektionsgesetz |
1948 | Marshall-Plan-Hilfe für Österreich (Abkommen USA-Österreich): Kindergarten und Schwedenausspeisung | Pension für Frauen, Witwenrente |
1949 | Kinderbeihilfengesetz, Arbeitslosenversicherungsgesetz | |
1950 | "Oktoberstreik": Massenproteste gegen das 4. Preis- und Lohnabkommen. | Abschaffung der Todesstrafe in Österreich |
1951 | Erste Direktwahl des Bundespräsidenten | Mindestlohntarife, Wohnungsbeihilfe zum Mietzins |
1952 | Arbeit am Kraftwerk Kaprun | Gründung des Verbandes für Sozialtourismus |
1953 | Die VOEST beginnt mit dem Linz-Donawitz-Verfahren Stahl zu produzieren. | Jugendeinstellungsgesetz zur Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit, Gründung des "Volkstheaters in den Außenbezirken" |
1954 | Elektrogeräte in Mietkauf-Aktionen (NEWAG) | |
1955 | Der österreichische Staatsvertrag wird unterzeichnet. Ausstrahlung der ersten österreichischen Fernsehsendung |
Der Nationalrat beschließt das ASVG. |
1955 | Österreich ist frei, aber besetzt. |
Statistik: Arbeitszeit – Urlaubsanspruch – Lohn – kartoffelpreise – Straßenbahnpreise 1945-1955
Arbeitszeit | 48 h / Woche (6-Tage-Woche) | |
Urlaub | 2 Wochen | Quelle Arbeiterurlaubsgesetz 1946 |
Lohn | 112 Schilling / Woche | Günther Chaloupek: Arbeiterverdienste 1926 - 1975, Männer, in S / Woche, durchschnittlich |
1 kg Kartoffel kostet | 1,30 Schilling (1955) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
1 Straßenbahnfahrschein kostet | 1,30 Schilling (1955) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
Zitat
KARL MAISEL
„Wäre es gelungen, die Beschäftigung aufrecht zu erhalten, den Menschen eine auskömmliche Lebenshaltung und ihre sozialen Rechte zu sichern, so wäre es weder zum Faschismus noch zum Krieg gekommen.“
aus: Vortrag „Sozialpolitik als Staatsaufgabe“ gehalten im Niederösterreichischen Gewerbeverein, Arbeit und Wirtschaft, 1.4.1949, S.2
Karl Maisel, Metallarbeiter, Präsident der AK Wien und des Österreichischen Arbeiterkammertages 1946-1964, Bundesminister für soziale Verwaltung 1945-1956
Kapitel 4: Wirtschaftsaufschwung
4. Kapitel downloadenÖsterreich zwischen 1956 und 1970
Was in dieser Zeit geschah
ÖGB & AK machen Österreich zum vorbildlichen Sozialstaat
AK und ÖGB sorgen dafür, dass sich Österreich zum modernen, vorbildlichen Sozialstaat entwickelt: Das Sozialversicherungsrecht tritt 1956 in Kraft, es folgen das Mutterschutzgesetz und Verbesserungen bei Karenz und Kinderbeihilfe. Zunächst gelingt es, die Arbeitszeit auf 45 Stunden zu verkürzen, nach einem Volksbegehren wird die 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich bis 1975 etappenweise eingeführt. Parallel dazu steigt der Mindestanspruch auf Urlaub und der Nationalfeiertag wird arbeitsfrei.
In allen Lebensbereichen geht es bergauf.
Durch die Hochkonjunktur herrscht bei den Männern Vollbeschäftigung. Jetzt werden auch Frauen als Mitarbeiterinnen umworben, Mädchen kommen leichter zu Lehrstellen.
Sozialpartnerschaft
Die Paritätische Kommission sorgt für eine Balance in der Entwicklung von Löhnen und Preisen. Sie ist das Kernstück der österreichischen Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft. Ohne diesen Interessenausgleich wäre die Aufwärtsentwicklung der Konjunktur viel geringer. Auf diese Weise bekommen auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren gerechten Anteil am Wirtschaftswachstum.
Leben & Wohnen
Weil die Preise so stark steigen, baut die AK eine Einkaufsberatung auf und beginnt mit Preisinformationen. Der Konsumentenschutz als Aufgabe der Arbeiterkammern ist geboren. Die Ausstellung „ Schutz dem Konsumenten“, die im Messepavillon die „Hilflosigkeit der Verbraucher bei Einkäufen“ zeigt, besuchen 20.000 Wienerinnen und Wiener.
Der Verein für Konsumenteninformation entsteht als sozialpartnerschaftliche Einrichtung.
In die Haushalte ziehen elektrische Geräte und Fernseher ein, mehr und mehr Menschen können sich auch ein Auto leisten. Langlebige Konsumgüter zeigen, dass die Krisenzeit überwunden und ein bescheidener Wohlstand eingekehrt ist. Fernsehen wird beliebt: Man sieht den „Aktuellen Sport“ mit Edi Finger, Zeit im Bild, Heinz Conrads und die Siege Toni Sailers bei den Olympischen Spielen 1964. Die Beatles besuchen Obertauern für einen Videodreh, und Udo Jürgens gewinnt den Song Contest von 1964 mit seinem „Merci Cherie“.
Die Biographien: Leben Sie den Alltag der Familie mit
Max, Anna und Julie
Max, geboren 1936, Maschinenschlosser
Anna, geboren 1938, Verkäuferin
Julie, geboren 1962,
Max
Max ist gelernter Maschinenschlosser. Er bildet Lehrlinge aus und freut sich über die Verbesserungen in der Arbeitswelt. Als überzeugtes Gewerkschaftsmitglied meint er, dass nur gemeinsam etwas weitergehen kann.
Im Vergleich zu früher kann sich Max viel mehr leisten: Er geht mit Anna ins Kino, manchmal auch zum Heurigen. Gerade hat er mit seiner Familie eine neue Wohnung am Stadtrand in Kagran bezogen – mit Balkon. Dafür hat er bei der Arbeiterkammer ein Darlehen bekommen. Max ist das Familienoberhaupt. Er entscheidet, welche Schule die Kinder besuchen, ob er ein Auto kauft oder ob Anna Weiterbildungskurse besucht. Um Autofahren zu lernen und den Führerschein zu machen besucht er die Fahrschule des Berufsförderungsinstitutes. Am Drivotrainer wird er ohne Gefahr an einem Fahrsimulator die Bedienung des Fahrzeugs erlernen.
Auch Max streikt im Mai 1962 mit den Metallern. Es ist der größte Streik seit Kriegsende. Die Arbeiterinnen und Arbeiter fordern nicht nur eine Lohnerhöhung, sondern auch arbeitsrechtliche Verbesserungen und die Abschaffung der diskriminierenden Frauenlohngruppen.
Anna
Anna arbeitete früher in einem Feinkostladen. Ihr erstes Kind kommt 1959 zur Welt. Da musste sie noch kündigen, um bei ihrem Kind zu Hause bleiben und Arbeitslosengeld zu bekommen. Als Julie 1962 auf die Welt kommt, ist das nicht mehr notwendig. Anna bekommt 500 Schilling Geburtenbeihilfe und ein Jahr lang Karenzgeld. Die Familienbeihilfe wird 14x im Jahr ausgezahlt. Auch die Säuglingsbeihilfe 2x jährlich hilft sehr.
Mit der neuen Wohnung so weit draußen am Stadtrand in Kagran ist Anna nicht so glücklich. Sie wollte lieber in der Stadt bleiben. Aber weil zumindest die Kinder ihr eigenes Zimmer haben, freundet sie sich mit der Situation an. Ihre Mutter hilft ihr sehr und passt oft auf die Kinder auf.
Die Hausarbeit ist für Anna nicht mehr so anstrengend wie für ihre Eltern. Bügeleisen, Kühlschrank und Staubsauger hat sie schon, die nächste Anschaffung soll eine Waschmaschine sein. Sie ist überzeugt, dass Max ihr bald eine kaufen wird. Trotzdem ärgert sie sich über ihn: Er hilft ihr nie bei der Hausarbeit. Aber er legt sich auch nicht quer, dass sie am BFI Kurse besuchen will um Stenotypistin zu werden. Sie will den Aufstieg ins Angestelltenverhältnis schaffen. Erst durch die Familienrechtsreform Anfang der 70er wird Anna ihrem Mann rechtlich gleichgestellt sein.
Julie
Julie geht in den Kindergarten, besucht Volks- und Hauptschule. Sie ist eine sehr gute Schülerin und erlebt eine unbeschwerte Kindheit. Mit ihren Freundinnen ist sie viel draußen. Am Samstagabend darf sie mit der Familie fernsehen. Der schwarz-weiß-Fernseher ist der Stolz des Vaters. Er ist es auch, der will, dass sie eine Lehre als Bürokauffrau macht. Aber ihre Mutter besteht darauf, dass das Mädel eine höhere Schule besucht. Die Lehrerin meinte, es wäre das Beste für Julie. So stimmt auch ihr Vater zu, und Julie kann einige Jahre später Lohnbuchhalterin in einer großen Wiener Firma werden. Jetzt liebt sie, mit ihren Freundinnen am Spielplatz zu toben.
Familie & Freizeit
Immer wenn Julie mit ihrer Schwester von der Schule nach Hause kommt, erwartet sie ihre Oma daheim mit einem köstlichen Mittagessen. Am besten schmeckt den beiden Omas Apfelstrudel.
Die Familie genießt es, manchmal auch in ein Restaurant essen zu gehen oder einen Heurigen zu besuchen. Max und Anna sehen im AK-Volkstheater in den Außenbezirken gutes Theater zum Preis einer Kinokarte.
Kalendarium
Jahr | Was in dieser Zeit geschah | Sozialpolitische Errungenschaften |
1955 | Österreich ist frei, aber besetzt. | |
1956 | Der Aufstand in Ungarn wird durch die UdSSR niedergeschlagen. 190.000 Flüchtlinge kommen nach Österreich. | |
1957 | Die Paritätische Kommission wird gegründet | Mutterschutzgesetz: 6 Wochen Krankengeld bei Mutterschutz, für alle Mütter |
1958 | Die Wiener Stadthalle wird eröffnet. Architekt: Roland Rainer. | Am Bergbau: 45-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich |
1959 | Tod von ÖGB-Präsident Johann Böhm. Sein Nachfolger wird Franz Olah. | 45-Stunden-Woche für alle, Gründung des Berufsförderungsinstitutes BFI |
1960 | John. F. Kennedy wird Präsident der USA | Das Säuglings-, Geburtenbeihilfe- und Karenzurlaubsgesetz wird beschlossen. Es gilt ab 1961. |
1961 | Bau der Berliner Mauer durch die DDR. Treffen zwischen US-Präsident Kennedy und UdSSR-Ministerpräsident Chruschtschow in Wien. |
Gründung des VKI. Karenzurlaub jetzt für 1 Jahr plus 4 Wochen Kündigungsschutz für die Mutter, Auszahlung der Kinderbeihilfe 14x jährlich, Raab-Olah-Abkommen zur Sozialpartnerschaft, eine Maßnahme zur Stabilisierung der Löhne und Preise |
1962 | Der Metallarbeiterstreik ist der größte Lohnkonflikt seit 1945 | |
1963 | Ein Katastrophenwinter mit sibirischer Kälte für Österreich: Im Klagenfurter Becken werden minus 28 Grad gemessen. US-Präsident Kennedy wird ermordet |
Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen der Paritätischen Kommission wird gegründet. |
1964 | Olympische Spiele in Innsbruck | Hugo Portisch initiiert das Rundfunk-Volksbegehren. |
1965 | Die Beatles in Obertauern | ab 1965 Verlängerung des Mindesturlaubs durch General-KV auf drei Wochen |
1966 | Weltweite Proteste gegen den Vietnam Krieg Udo Jürgens gewinnt den SongContest |
Der Nationalfeiertag wird arbeitsfrei. |
1967 | 26. Oktober: Erstmals ist der Nationalfeiertag frei (und bezahlt). | |
1968 | Der Wiener Gemeinderat beschließt den Bau der U Bahn. Mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen ist der Reformkurs des Prager Frühlings beendet. Friedensnobelpreisträger Martin Luther King wird ermordet. |
|
1969 | Mondlandung im Juli | AK und ÖGB definieren die Erreichung und Sicherung der Vollbeschäftigung als zentrales Ziel. Berufsausbildungsgesetz; Arbeitsmarktförderungsgesetz |
1970 | Jochen Rindt stirbt, Marianne Mendt singt "Die Glockn" und der Bau der UNO-City wird beschlossen. |
43-Stundenwoche |
Statistik: Arbeitszeit – Urlaubsanspruch – Lohn – kartoffelpreise – Straßenbahnpreise 1956-1970
Arbeitszeit | 45 h / Woche (1959) | |
Urlaub | 12 Tage / Jahr (um 1960), 3 Wochen (um 1965) | |
Lohn | 742 Schilling / Woche (um 1963) | Günther Chaloupek: Arbeiterverdienste 1926 - 1975, für einen Facharbeiter in der Sachgüterproduktion |
1 kg Kartoffel kostet | 1,60 Schilling (1960) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
1 Straßenbahnfahrschein kostet | 2,20 Schilling (1960) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
Zitat
FRIEDRICH HILLEGEIST
„Unser Hauptziel aber muß es sein, den Menschen das Gefühl sozialer Sicherheit und Geborgenheit zu geben, ohne damit ihre Selbstverantwortung zu beseitigen. Mit einem Optimum an sozialer Sicherheit soll gleichzeitig ein Optimum an persönlicher Freiheit verbunden sein.“
aus: Soziale Sicherheit, August 1959, S. 226.
Friedrich Hillegeist, Angestellter, Abgeordneter zum Nationalrat 1945-1962, Zweiter Präsident des Nationalrates 1961-1962, Vizepräsident des ÖGB 1959
Kapitel 5: Die 70er und 80er
5. Kapitel downloadenÖsterreich zwischen 1970 und 1989
Was in dieser Zeit geschah
Bildung und Kultur für alle!
Wenn die Leute nicht ins Theater kommen können, dann kommt das Theater zu den Leuten. Nach diesem Motto funktioniert mit großem Erfolg schon seit Anfang der Fünfziger Jahre das AK-Theater in den Außenbezirken. 1975 wird das Theaterabo ins Leben gerufen.
Wie die Gesellschaft aufbricht
Die Stellung des Ehemanns als Oberhaupt der Familie wird 1975 abgeschafft. Mann und Frau sind gleichberechtigte Partner in der Familie. Der Mann kann seiner Ehefrau nicht mehr verbieten, berufstätig zu sein. Beide müssen zum Unterhalt der Familie beizutragen, entweder durch Erwerbstätigkeit oder durch Hausarbeit.
1979 tritt das Gleichbehandlungsgesetz in Kraft, das jede Diskriminierung bei der Festsetzung von Lohn und Gehalt untersagt. Damit wurde auch der Grundstein dafür gelegt, die in manchen Kollektivverträgen noch immer bestehenden diskriminierenden Bestimmungen für Frauen zu beseitigen
Demokratie im Betrieb
In den 70ern etablierte sich die überbetriebliche Mitbestimmung in der Sozialpartnerschaft. Die Gewerkschaftsbewegung legt jetzt in den 80ern ihren Schwerpunkt auf die betriebliche Mitbestimmung. Jugendliche können eine Interessenvertretung in ihren Reihen wählen. Das erste Teilstück des Arbeitsrechts wird kodifiziert und schließlich erreichen AK und ÖGB auch mehr Mitbestimmung für Betriebsräte.
Vollbeschäftigung
1969 unterschrieben 890.000 Menschen das ÖGB Volksbegehren zur 40-Stunden-Woche. Sie wird schrittweise eingeführt und ist ab 1975 Normalarbeitszeit. Es herrscht Vollbeschäftigung. In Gastarbeitern werden weitere Arbeitskräfte gefunden. Das Ausländerbeschäftigungsgesetz sichert inländische Arbeitsplätze und verbessert den Schutz für Gastarbeiter. Höchstzahlen werden festgelegt, die Ausländerbeschäftigung an behördliche Bewilligungen gebunden.
Auch die Ungleichheit bei der Urlaubsdauer zwischen Arbeitern und Angestellten wird abgeschafft. Mit Beginn 1977 haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Österreich Anspruch auf 4 Wochen bezahlten Urlaub, ab 1986 werden es jene 5 Wochen sein, die auch heute noch gelten. Auch die Abfertigung für Arbeiter gibt es erst seit dieser Zeit. Sie wird etappenweise angeglichen.
Die Wirtschaft floriert.
1972: Österreich unterzeichnet ein Freihandelsabkommen mit dem Europäischen Wirtschaftsraum.
1977: Eine europäische Freihandelszone wird mit dem Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen der EWG und der EFTA Wirklichkeit.
Wien setzt auf den Öffentlichen Verkehr
Die Überschussbudgets der Anfangsjahre der 70er werden für Konjunktur- und Modernisierungsvorhaben eingesetzt. Während der Rezession kurbeln öffentliche Aufträge, vor allem in der Infrastruktur, die Wirtschaft an. So werden 1978 die ersten Teilstücke der U1 eröffnet.
Freie Bildung für alle
Alle Menschen in Österreich, egal wie viel sie verdienen oder wo sie herkommen, sollen dieselben Chancen zu mehr und besserer Bildung haben. Um dieses Ziel zu erreichen, werden die Studiengebühren und die Aufnahmeprüfungen an den AHS abgeschafft sowie die Schülerfreifahrt eingeführt. Dank der Schulbuchaktion müssen Eltern nicht mehr die Kosten von Unterrichtsmaterialien aufkommen. Auch für Lehrlinge zahlen für die Lehrabschlussprüfung nichts mehr.
Ölpreisschock und Zwentendorf
1973 drosselt die OPEC die Erdölfördermengen. Das führt zu einer Erhöhung der Erdölpreise um 70 Prozent. Die wenigen Maßnahmen, die kurzfristig umsetzbar sind, sind Tempolimits und die Einführung eines autofreien Tages, der im Jänner 1974 eingeführt wird.
Die Nutzung von Kernenergie zur Sicherung des Energiebedarfs polarisiert. Österreich steigt aus der Atomenergie aus, noch ehe es damit begonnen hat. Die Volksabstimmung vom 5. November 1978 bringt eine knappe Entscheidung von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf.
Ein schwarzer Tag
- August 1976: Ein Tag mit Schreckensmeldungen. Um 5 Uhr früh ist die Reichsbrücke eingestürzt. Der Mittelteil fällt als Ganzes ins Wasser, die beiden Außenteile hängen schräg hinunter. Ein Busfahrer stirbt. Am Nachmittag hat Niki Lauda seinen Feuerunfall am Nürburgring.
Wir Österreicher sind stolz auf unsere Helden.
1976: Franz Klammer gewinnt Kitzbühel und wird Olympiasieger in der Abfahrt
1978: Edi Finger wird narrisch in Cordoba. Österreich – Deutschland 3:2
1982: 1. Wiener Frühlingsmarathon
1984 Niki Lauda wird zum 3. Mal Formel-1-Weltmeister
Die Biographien: Leben Sie den Alltag der Familie mit
Max, Anna und Julie
Max, geboren 1945, Schweißer
Anna, geboren 1947, Angestellte
Julie, geboren 1972
Max
Max ist Schweißer in einer großen Fabrik. Er arbeitet im Schichtbetrieb und war auch schon auf Montage. Im Betrieb ist er seit seiner Lehrzeit, auch Anna lernte er dort kennen. Sie war das hübscheste Lehrmädchen. Die beiden haben ihr gemeinsames Leben der Schichtarbeit angepasst. Das geht vor allem deswegen, weil Max´s Mutter, jetzt Mindestrentnerin, immer für sie und die drei Kinder da ist. Als gut ausgebildeter Facharbeiter könnte Max jederzeit in einem anderen Betrieb arbeiten. Er will aber die Firma nicht wechseln. In der Werkmeisterschule der TGA macht Max den Meisterkurs, und irgendwann wird er Schichtleiter sein. Er versteht sich mit seinen Kollegen gut, auch mit den ausländischen. Sozialleistungen und Lohn passen auch, und der Betriebsrat organisiert jedes Jahr für die Kollegen und ihre Familien eine Urlaubswoche in Bibione. Wie seine Kollegen ist Max politisch interessiert und marschiert Jahr für Jahr beim Maiaufmarsch am Rathausplatz mit. Bei der Zwentendorf-Abstimmung sagt Max „JA“ zur Atomenergie.
Ab den 1980er Jahren erleichtert Männern wie Max das Schwerarbeitsgesetz seine Arbeit in der Fabrik: mehr Pausen, vorbeugender Arbeitnehmerschutz, Sonderruhegeld. Max weiß, dass seine Arbeit gefährlich ist. Der Arbeitnehmerschutz wird gerade seit das neue Arbeitnehmerschutzgesetz in Kraft ist in seiner Firma sehr ernst genommen. Die Sicherheitskraft hat ihn und seine Kollegen oft auf die Sicherheitsausrüstung hingewiesen. Und trotzdem ist es passiert. Nur ein einziges Mal ist er unaufmerksam... Dabei hat er Glück im Unglück. Die Verletzungen heilen gut und finanziell ist er abgesichert. Das Entgeltfortzahlungsgesetz bei Krankheit oder Unfall ist schon in Kraft. Arbeiter haben seit 1974 dieselben Rechte wie Angestellte. So bekommt Max 4 Wochen lang seinen Lohn weiter bezahlt.
Anna
Anna lernt ihren Max schon in der Maschinenbaufirma kennen. Sie verlieben sich und recht rasch nach ihrer Lehrabschlussprüfung kündigt sich auch das erste Kind an. Max gefällt es, wenn er mit der Kleinen im Kinderwagen spazieren fährt. Die beiden brauchen die Familienrechtsreform nicht, um als gleichberechtigte Partner zu leben. Anna nutzt den einjährigen Karenzurlaub und geht zu jeder Mutter-Kind-Pass-Untersuchung. Nur so bekommt sie die Geburtenbeihilfe, die bei Julie 1972 2.000 Schilling und beim dritten Kind 1982 immerhin 19.000 Schilling ausmacht! Das ist mehr als Max im Monat verdient! Es ist für Anna selbstverständlich, arbeiten zu gehen, sich weiter zu bilden. Alle ihre Kinder werden nach der Volksschule das Gymnasium besuchen und maturieren, vielleicht auch studieren. „Bildung kann dir keiner mehr wegnehmen“, predigt sie ihrem pubertierenden Sohn. Sie möchte, dass ihre Kinder die besten Chancen haben. Ihre Töchter genauso wie ihr Sohn. Anna ist fest davon überzeugt, dass es ihren Kindern noch einmal besser gehen wird als ihr selber. Anna ist ein Familienmensch, sehr naturverbunden und votiert gegen Zwentendorf.
Urlaub in Bibione
Die Fenster offen, die Gurte unbenutzt und quengelnde Kinder auf der Rückbank. Wie Max und Anna auch brechen zahlreiche Wienerinnen und Wiener zu Beginn der Sommerferien frühmorgens auf in Richtung Süden. Man will am ersten Tag den Strand noch nutzen. Es geht sich selten aus, denn ohne Stau geht die Reise nicht. Dafür fährt die Familie aber mit dem eigenen Auto. Die Gurtepflicht gibt es in Österreich seit 15. Juli 1976. Gestraft wird aber bis Juli 1984 nicht. Dann beträgt die Mindeststrafe 100 Schilling (ca 7 Euro).
Vor ein paar Jahren fuhr die damals noch kleinere Familie beim organisierten Urlaub der Firma mit dem Bus mit. Jetzt gibt es den nicht mehr, alle Kollegen haben selber Autos. Der Kollege, der die Ausflüge organisierte, ist pensioniert. Ein Nachfolger hat sich nicht gefunden.
Max möchte, dass seine Mutter mit ihm, Anna und den Kindern ans Meer mitkommt. Die Mindestrentnerin hat Österreich noch nie verlassen. Aber die Oma will nicht. Sie macht lieber Tagesausflüge mit dem Pensionistenverband, weil sie am Abend wieder zu Hause sein will. Für den Fotoapparat werden zwei 24er Filmrollen gekauft. Das Entwickeln der Fotos ist teuer, aber ein paar Erinnerungen an den Urlaub am Meer müssen sein.
Ein Viertelanschluss Telefon
Lange müssen Anna und Max auf ihren Viertelanschluss warten. Endlich wird er montiert. Telefonieren ist ein Privileg, das zu Beginn hauptsächlich den Erwachsenen vorbehalten ist. Leider hat die Familie einen Dauertelefonierer unter ihnen und sie bekommen oft kein Freizeichen. An seine erste Telefonnummer erinnert sich Max noch heute.
Im Nebenhaus probiert die Gemeinde Wien eine Müllzerkleinerungsanlage aus. Mit einer elektronisch gesteuerten Walze wird der Müll zerkleinert. Sie soll helfen, dass der Mist nicht so viel Platz braucht. Durchsetzen wird sie sich nicht. Mittels Mülltrennung wird man den Tonnen an Abfall erfolgreicher Herr werden.
Der Fernseher wird zum familiären Mittelpunkt. „Kottan ermittelt“ von Helmut Zenker und der „Mundl“ von Ernst Hinterberger gehören zu den Pflichtterminen. Den „Club 2“ schauen Max und Anna manchmal an. Am Samstag erledigen sie Einkäufe, manchmal auch in der neu eröffneten Shopping City Süd bei Wien. Max geht gerne auf den Fußballplatz, Anna genießt lieber ihre Freizeit mit den Kindern im Gänsehäufel.
Julie
Julie ist ein glückliches Kind der 70er. Kindergarten, Volksschule, Gymnasium, Handelsakademie, Matura. Sie wird Buchhalterin werden und als erste der Familie auch beruflich mit PCs zu tun haben. Während ihrer Volksschulzeit besucht Julie den städtischen Hort. Als sie ins Gymnasium kommt, darf sie am Nachmittag schon alleine zu Hause sein. Darauf ist Julie besonders stolz. Zuerst hat Julie vom Kinderzimmerfenster aus den Bau der neuen Donauinsel, später auch der Brigittenauer Brücke verfolgt. Heute geht sie dort joggen, so oft es sich einrichten lässt, immer ihren Walkman bei sich.
Julie kann sich gut daran erinnern, dass dann, wenn sie krank war und fiebernd im Bett lag, ihre Mutter von der Arbeit daheim bleiben durfte. Mama las ihr oft Helmi-Geschichten vor. Die Pflegefreistellung war 1976 eingeführt worden.
Als Jugendliche verbringt Julie nach der Schule die meiste Zeit mit ihren Freundinnen auf der Donauinsel. Dass zu Beginn noch mehr Schotter und Baustellen als Grünanlagen die „Fadennudel“ – wie ihr Vater sagte – zieren, stört die jungen Leute nicht. Ihre Mutter hatte vehement gegen die Verbauung auf der Insel gewettert. Für sie war ein Erholungszentrum am Entlastungsgerinne mit Bademöglichkeit irgendwie auch ein Ersatz für Bibione. Im Annental macht Julies Familie günstigen Urlaub. Mit jetzt drei Kindern kommt den Eltern der Urlaub im AK Urlaubsheim gerade recht. Die kleineren Geschwister sind begeistert, nur Teenager Julie mault. Wandern und Beeren pflücken interessiert sie gar nicht. Nächstes Jahr wird sie nicht mehr mitfahren.
1989 – eine Zeitenwende
Vor ein paar Jahren sind Anna und Max bei der ÖGB Friedensdemo mitgegangen, 1989 freuen sie sich mit den Berliner Mauerspechten: über den Fall der Mauer, über Perestroika und über das Ende des Eisernen Vorhangs.
Kalendarium
Jahr | Was in dieser Zeit geschah | Sozialpolitische Errungenschaften |
1970 | 43-Stundenwoche | |
1971 | Internationale Währungskrise | Schülerbeihilfengesetz |
1972 | Terroranschlag bei den Olympischen Sommerspielen in München | Arbeitnehmerschutzgesetz, Einführung von Jugendvertrauensräten |
1973 | Die Mehrwertsteuer tritt in Kraft. | Das ArbVG wird 1973 beschlossen und tritt mit 1.7.1974 in Kraft. |
1974 | Autofreier Tag, Fristenlösung | Entgeltfortzahlungsgesetz: Lohnfortzahlung bei Krankheit oder Unfall |
1975 | Zivildienst | Familienrechtsreform: Rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe, die verheiratete Frau darf nun ohne Zustimmung des Mannes arbeiten gehen. Die 40-Stunden-Woche tritt in Kraft. |
1976 | Franz Klammer wird Olympiasieger, Feuerunfall von Niki Lauda, Einsturz der Wiener Reichsbrücke, Gurtepflicht in Österreich. Das Ausländerbeschäftigungsgesetz tritt in Kraft. | Pflegefreistellungsgesetz |
1977 | Der Nationalrat beschließt das Volksanwaltschaftsgesetz; in Kärnten wird die erste zweisprachige Ortstafel aufgestellt. | Der Mindestanspruch auf bezahlten Urlaub erhöht sich auf 4 Wochen, nach 20 Jahren auf 5 Wochen. Insolvenzschutz |
1978 | Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf | Reform der Berufsausbildung |
1979 | Wien wird die 3. UNO-Stadt | Gleichstellung der ArbeiterInnen mit den Angestellten bei der Abfertigung; Konsumentenschutzgesetz, Gleichbehandlungsgesetz |
1980 | Die Sommerzeit wird eingeführt. | Die Mitbestimmung der ArbeitnehmervertreterInnen im Aufsichtsrat wird neu geregelt. |
1981 | Eröffnung der neuen Reichsbrücke | Verbesserungen im Nachtschicht-Schwerarbeitergesetz |
1982 | 70.000 TeilnehmerInnen nehmen an der ÖGB Friedensdemonstration in Wien teil. | Das Gesellschaftsrechtsänderungsgesetz zur Stärkung der Stellung von AufsichtsrätInnen wird beschlossen. |
1983 | Papstmesse beim Donauturm in Wien | etappenweise Verlängerung des Mindesturlaubs von 4 auf 5 Wochen |
1984 | Auseinandersetzung über den geplanten Bau eines Donaukraftwerkes bei Hainburg, im Dezember besetzen Umweltschützer die Au | Das Urlaubsgesetz tritt in Kraft (1. Etappe) |
1985 | AKH Skandal, Weinskandal | Erste Kollektivverträge mit kürzerer Arbeitszeit als 40 Stunden (Metaller, GPA 38,5h) |
1986 | Tschernobyl, Lotto in Österreich, Das Konferenzzentrum bei der Wiener UNO-City wird feierlich eröffnet. | 5 Wochen Mindesturlaub für alle |
1987 | Fritz Verzetnitsch folgt Anton Benya als ÖGB Präsident | |
1988 | Donauinsel ist fertig | Arbeitskräfteüberlassungsgesetz |
1989 | Der eiserne Vorhang öffnet sich, die Berliner Mauer fällt. |
Statistik: Arbeitszeit – Urlaubsanspruch – Lohn – kartoffelpreise – Straßenbahnpreise 1971-1989
Arbeitszeit | 43 h / Woche (um 1970) | |
Urlaub | 24 Tage / Jahr (ab 1976) | |
Lohn | 2502 Schilling / Woche (um 1976) | Günther Chaloupek: Arbeiterverdienste 1926 – 1975, für einen Facharbeiter in der Sachgüterproduktion |
1 kg Kartoffel kostet | 6 Schilling (1980) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
1 Straßenbahnfahrschein kostet | 12 Schilling (1980) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
zitat
ELEONORA HOSTASCH
„Ohne die gesetzliche Mitgliedschaft aller gibt es keine Kammern. Ohne Kammern gibt es keine Sozialpartnerschaft. Darauf ist das politische System der 2. Republik aufgebaut – und zu dieser Demokratie stehe ich. (…) Unsere Aufgabe ist die Vertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir sind ihre Stimme, und wir wollen, daß diese Stimme laut ist.“
aus: AK für Sie, 8/1994
Lore Hostasch, Vizepräsidentin des ÖGB 1983-1991, Vorsitzende der GPA 1989-1994, Präsidentin der AK Wien und Bundesarbeitskammer 1994-1997, Sozialministerin von 1997-2000.
Kapitel 6: 1989 bis heute
6. Kapitel downloadenÖsterreich zwischen 1989 und heute
Was in dieser Zeit geschah
Rat und Hilfe
Heute vertritt die Arbeiterkammer ihre Mitglieder auch vor dem Arbeits- und Sozialgericht. Mit dem AK Gesetz von 1992 wird dieser Rechtsschutz eingeführt. Seit dieser Zeit bleiben auch Arbeitslose und Karenzierte bei ihrer AK Mitglied. Sie erhalten alle Leistungen der Arbeiterkammer - und das völlig beitragsfrei. Die Reform ist auch eine Folge der Diskussionen über die zu hohen Mehrfachbezüge des steirischen AK-Präsidenten Alois Rechberger.
1996 findet eine österreichweite Mitgliederbefragung statt, indirekt ausgelöst durch die Bezüge-Debatte rund um den Kammeramtsdirektor der AK Steiermark, Kurt Zacharias. Mehr als 90 Prozent der teilnehmenden Mitglieder votieren bei dieser Urabstimmung für ihre gesetzliche Interessenvertretung. Gegner fordern schon seit Beginn der 90er Jahre die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft. Aber die Beschäftigten in Österreich lassen sich ihre Interessenvertretung nicht wegnehmen. Das zeigt auch die hohe Wahlbeteiligung von über 67 Prozent.
Mit dem AK Plus-Programm aus dem Jahr 2000 beschließt die AK eine Leistungsoffensive für ihre Mitglieder: Am bekanntesten: Jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin erhält 1000 Schilling für die berufliche Weiterbildung. Freie DienstnehmerInnen bekommen Rechtsschutz. Und: das AK Portal, der österreichweite Internetauftritt aller Länderkammern, heute einer der Top15 österreichischer Internetauftritte, entsteht.
Österreich auf dem Weg zu EU und Euro
1989 Österreich stellt den Beitrittsantrag zur EG
1991 Die positive Stellungnahme der EG kommt
1993 Der Transitvertrag tritt in Kraft. Die AK hat maßgeblich mitverhandelt.
1994 In der Volksabstimmung sagen 66 Prozent der österreichischen Bevölkerung „Ja“ zum EU-Beitritt.
1995 Österreich tritt der EU bei.
2002 Der Euro wird gesetzliches Zahlungsmittel in Österreich. Die Arbeiterkammern sind die Preiswächter der Nation um Teuerungen durch unfaires Umrechnen zu verhindern.
Früher war alles besser?
Rasch tritt anstelle der Begeisterung über den Fall des Eisernen Vorhangs Ernüchterung. Betriebe siedeln in den billigeren Osten ab. Parallel zur europäischen Integration entwickeln sich Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass. Alle Vertreterinnen und Vertreter von AK und Gewerkschaft treten aktiv für Versachlichung und gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf. Sie kämpfen gegen Lohn- und Sozialdumping und liefern Vorschläge für einen geordneten Arbeitsmarkt. Die Forderung der AK wird umgesetzt: eine 7-jährige Übergangsfrist für ArbeitnehmerInnen aus den mittel- und osteuropäischen Staaten kommt 2004.
Das Internetzeitalter bricht an
Technisierung und Digitalisierung schreiten voran und bringen eine Entsolidarisierung der Gesellschaft. Neoliberale Tendenzen lassen den Anteil am Kapitaleinkommen steigen, während das Arbeitseinkommen sinkt. Die Ungleichheit in der Verteilung von Arbeit und Kapital steigt und steigt.
1989 haben 6 Prozent der Haushalte in Österreich einen PC, heute sind es knapp 90 Prozent. Unterwegs telefonieren reicht nicht mehr aus. Smartphones und Apps und technisieren das alltäglichen Leben von heute. Internet und Mobiltelefonie sind zu Grundbedürfnissen des Menschen geworden.
Aus Startups werden Monopole: Google wird 1998 gegründet, Youtube 2005. Facebook gibt es seit 2008. Die Europäische Zentralbank schließt ihr Zahlungssystem zu Silvester: Die Angst vor einem Milleniums-Bug verursacht bei vielen einen flauen Magen. Zahlreiche junge Unternehmen, die das wirtschaftliche Potenzial mit dem Internetgeschäft nutzen wollen, können sich nicht mehr halten. Die Aktienmärkte werden erschüttert. Eine Woche nach dem Allzeithoch des Nasdaq zu Börseschluss am 10. März 2000 befinden sich die Kurse im freien Fall. Hunderte von Firmen, die auf dem Papier Millionen wert sind, kennen aber schwarze Zahlen nur vom Hörensagen. Viele Kleinanleger verlieren in diesem März 2000 ihre Vermögen. Nur Unternehmen mit soliden Konzepten wie Amazon oder Ebay überleben. Allerdings schlagen heute Gewerkschaften darüber Alarm, wie Amazon mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgeht.
Onlineshoppen geht schnell und ist bequem. Wir erledigen Bankgeschäfte, buchen unsere nächste Reise oder lassen uns den online-Wochenendeinkauf nach Haus liefern. Wie wenig bewusst ist uns, dass wir uns zu gläsernen Menschen machen? Dass durch diese Big Datas unser Leben vorhersagbar wird?
Internet der Dinge: Vom PC ins Internet, über Smartphones zum Internet der Dinge und in ein SmartHome: An einer Menschengeneration laufen zig Technikgenerationen vorbei, die angewandt werden wollen. Oder ist die 2-Klassen-Gesellschaft der Nutzer und Verweigerer längst Realität?
Zunehmender Extremismus
Die Frage, was Kammern und Gewerkschaften gegen den Extremismus tun können, beantwortet Colin Crouch beim Wiener Stadtgespräch: „Sie können vermehrt auf den Unterschied zwischen den Sozialstaaten hinweisen und für den funktionierenden Sozialstaat kämpfen. Durch Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Parteien kann jeder einzelne für eine bessere Welt arbeiten.“, Colin Crouch, 10. Mai 2012, Wiener Stadtgespräch.
25 Briefbomben explodieren bei uns in Österreich zwischen 1993 und 1996. Der Islamismus, eine radikale politische Ideologie, lässt in der aktuelleren Zeit eine neue Flüchtlingswelle entstehen. Die Welle der Hilfsbereitschaft ist groß. Die Frage, wie viel Flüchtlinge das Land verträgt, teilt Österreich in zwei Lager.
Die Biographien: Leben Sie den Alltag der Familie mit
Max, Anna, Dana, Julie und Adrijan
Max, Netzwerktechniker, geboren 1965
Anna, Röntgenassistentin, geboren 1969,
Julie, geboren 1996
Dana, Installateurin, geboren 1970
Adrijan, geboren 2002
Max
Max ist Netzwerktechniker in einem großen Konzern. Er ist ein Computerfreak. Es gibt nichts Technisches, das er nicht als Erster haben muss. Nach der Matura an der AHS inskribierte er Medizin. Das hat seine Mutter so ausgesucht. Anstatt zu studieren genießt der gute Max aber Stadt, Szene und studentisches Leben. Die Familienbeihilfe reicht zum Leben, das Zimmer im Studentenheim ist billig, und mit ein paar Nebenjobs hält er sich gut über Wasser. Werkverträge, da und dort einmal ein paar Monate angestellt, genießt Max sein Dasein. Bis er keine Familienbeihilfe mehr bekommt. Also belegt er ein Abendkolleg, macht einen Lehrabschluss und startet als Facharbeiter in den Job: Kollektivvertragslohn, kurzfristig angeordnete Überstunden, nicht genehmigte Urlaubsanträge. Recht ist, was dem Chef gefällt; immer wieder wechselt Max die Jobs. Zwischendurch ist er arbeitslos, bekommt niemals Abfertigung. 1990 lernt er Anna kennen. Bald darauf zieht mit ihr – und einem sechsstelligen Schillingkredit – in eine Genossenschaftswohnung. Anna überredet ihn, Fortbildungskurse zu machen, und so findet er schließlich auch eine Arbeit, die ihm gefällt.
Tochter Julie wird 1996 geboren. Max ist so stolz auf seine kleine Prinzessin. Liebend gern kauft er Spielzeug für sie ein. Eines Tages besorgt Max einen Kindercomputer für sie. Er handelt sich mit Anna ein mächtiges Zerwürfnis ein. Sie meint, ihre gemeinsame Tochter solle lieber im Park spielen als vor dem Bildschirm zu sitzen. Dabei wollte er der Kleinen nur eine Freude machen. Es zeichnet sich ab, dass sie nicht ihr Leben lang zusammen sein werden.
Anna
Anna ist Röntgenassistentin. Sie kommt aus dem Mittelburgenland und hat Minderheiten nie als Bedrohung erlebt. Bei ihr zu Hause war es normal, dass die Nachbarn neben Deutsch auch kroatisch sprechen. Nach der Matura geht sie nach Wien, besucht die medizinisch-technische Schule in Lainz. Sie lernt Max kennen und verliebt sich in ihn. Anna motiviert Max zur Weiterbildung und freut sich mit ihm, als er seinen neuen Job im Zuliefererkonzern antritt. Einerseits bewundert sie seinen Techniksinn, andererseits kann sie nicht nachvollziehen, dass Max für diesen modernen Schnickschnack tausende Schilling zum Fenster rauswirft. Als Rucksacktouristen reisen die beiden in ihren Urlauben durch die Welt.
Trotzdem scheint mit Tochter Julie, die 1996 zur Welt kommt, das Glück zu dritt perfekt. Erst geht Anna in Karenz, dann teilen sich die beiden die Kindererziehung und nutzen die 1990 eingeführte Teilzeitkarenz. Das Glück währt nicht lang, die beiden trennen sich. Anna ist jetzt Alleinerzieherin und arbeitet weiterhin in Teilzeit. Ab 2007 wird sie als Teilzeitbeschäftigte für Mehrarbeit einen 25prozentigen Zuschlag bekommen.
Als die Mitgliederbefragung der Arbeiterkammer 1996 im Röntgeninstitut, in dem Anna arbeitet, stattfindet, ist sie gerade in Karenz. Sie stimmt per Briefwahl für die Beibehaltung der Pflichtmitgliedschaft. Ein Österreich ohne Arbeiterkammern kann sie sich gar nicht vorstellen!
Die Scheidung von Max geht ohne Rosenkrieg über die Bühne. Als ihr Ex-Mann die Installateurin Dana heiratet und Adrijan zur Welt kommt, freut sich Anna mit ihnen. Sie bleibt allein. Ihre Arbeit im Radiologischen Institut füllt sie aus, der 2-Frauen-Haushalt mit ihrer Tochter Julie funktioniert gut. Sie lässt sich von einer erfahrenen Kollegin auch motivieren, als Betriebsrätin tätig zu werden. Gerade als Julie ihre Matura in der Tasche hat, erkrankt Anna schwer. Anna lebte gesund, raucht nicht, isst ausgewogen und betreibt regelmäßig Sport. Trotzdem erkrankt sie. Sie ist sich sicher: Würde sie in einem anderen Land mit einem anderen Krankenversicherungssystem leben, sie hätte nicht so selbstverständlich diese teure medizinische Versorgung bekommen. Die Behandlung ist anstrengend und fordert Anna alles ab. Obwohl es nicht gut aussieht für sie, bekommen ihre Ärzte die Krankheit in den Griff. Der Krankenstand dauert lange. Wie sehr freut sie sich, dass ihre Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus trotz des anstrengenden Berufsalltags immer freundlich und zuvorkommend sind. Anna nominiert einen Pfleger für den Preis „PflegerIn mit Herz“. Als das Krankengeld erschöpft ist, bekommt Anna Rehabilitationsgeld. Später wieder sie wieder in ihren Beruf einsteigen. Aber es ist nicht klar, wie belastbar Anna sein wird. Ein sanfter Wiedereinstieg in den Beruf würde ihr sehr helfen.
Zweites Glück mit Dana und Adrijan
Mit der Installateurin Dana findet Max ein neues Glück. Sie hat Verständnis für Max´ Faible. Sie, ihr gemeinsamer Sohn Adrijan, Julie sowie Danas ältere Tochter aus deren erster Ehe verstehen einander gut. Als Max in den großen Zulieferkonzern wechselt kommt er erstmals in den Genuss der neuen Abfertigung. Obwohl er selber kündigt, kann er den in der alten Firma erworbenen Anspruch als Rucksack mitnehmen. Wenn er pensioniert werden wird, wird er sich die Abfertigung als Zusatzpension auszahlen lassen. Durch die Pensionsreform von 2003 hat er wegen seiner vielen Werkvertragsjobs ohnehin schon genug verloren.
Leider kommt die Pflegefreistellung für Patch-Work-Familien (2013) für die Familie ein bisschen zu spät.
Mit seiner Schulklasse besucht Adrijan die L14, die Berufsinformationsmesse der AK Wien. Er lernt seine persönlichen Interessen, Schwerpunkte und Stärken kennen und versucht sich bei manchen Stationen auch selber. Es ist eine willkommene Möglichkeit für ihn unterschiedliche Berufe auszuprobieren. Adrijan macht es einen Riesenspaß. Er will Optiker werden.
Dana nimmt Bildungskarenz in Anspruch, macht Buchhaltungskurse, die mit dem Bildungsgutschein der AK Wien und vom WAFF gefördert werden und wechselt nach erfolgreichem Abschluss ins Büro. Dana ist der „Finanzminister“ der Familie und schaut aufs Geld. Deswegen besucht sie regelmäßig die Steuerspartage der AK Wien und holt sich Geld über den Steuerausgleich zurück.
Ausländische Kollegen
Zahlreiche KollegInnen und Freunde von Dana kommen aus Ex-Jugoslawien. Sie wollten sich und ihren Kindern ein Leben im Krieg ersparen und sind aus den Krisengebieten geflohen. Viele begannen am Bau, nahmen Hilfsarbeitertätigkeiten an. Heute fühlen sie sich als Österreicher, ihre Kinder sind hier geboren.
Arbeitslos: Jeder Einzelne kennt jemanden, der schon von Arbeitslosigkeit betroffen war. Speziell für die Ungelernten unter ihnen ist es sehr schwierig wieder Fuß zu fassen.
Julie
Julie ist das gemeinsame Kind von Max und Anna. Sie interessiert sich für die Gesundheitstechnik und macht nach der Matura die Aufnahmeprüfung zum Studienlehrgang für biomedizinisches Ingenieurswesen an der Fachhochschule. Julie kennt keine Berührungsängste mit der Technik. Sie wohnt immer noch im Hotel Mama. Einerseits kann sich die junge Studentin keine eigene Wohnung leisten - Wohnen ist einfach zu teuer - andererseits braucht ihre Mutter wegen der überstandenen Krankheit nach wie vor ihre Unterstützung.
Julie träumt von einer eigenen Wohnung. Groß müssten sie ja nicht sein, ihre eigenen vier Wände. Eine Einzimmerwohnung, vielleicht in Aspern, im Stadterweiterungsgebiet, würde schon reichen fürs kleine Glück. Dann würde sie Freunde einladen, Partys feiern. Und ihr Freund und sie könnten ungestört zusammen sein.
Obwohl das Studium anstrengend ist und sie viel lernen muss, jobbt Julie nebenbei geringfügig in einem CallCenter. Sie riskiert damit, manch eine Prüfung wiederholen zu müssen, aber mit dem Job kann sie sich zumindest hie und da einen kleinen Luxus leisten. Irgendwann wird sie in eine kleine Wohnung ziehen können.
Kalendarium
Jahr | Was in dieser Zeit geschah | Sozialpolitische Errungenschaften |
1989 | Außenminister Mock übergibt das Beitrittsgesuch Österreichs zur EU. | Das Theater Akzent wird eröffnet. |
1990 | 2. Golfkrieg | Karenz für Väter |
1991 | Franz Viehböck: ein Österreicher fliegt ins All. Ötzi wird gefunden, 1991-95: Jugoslawien-Kriege |
Nationalrat beschließt erweiterte Ladenöffnungszeiten |
1992 | Der letzte Bauabschnitt des Rhein-Main-Donaukanals wird geflutet. | Lehrlingsfreifahrt zum Arbeitsort Das neue Arbeiterkammergesetz bringt den Rechtsschutz |
1993 | Lichtermeer, Briefbombenterror | 1993 wird ein siebenstufiges Pflegegeld (zwischen 2.500 und 20.000 Schilling) für die Pflege in der Familie eingeführt. Der Transitvertrag, den die AK maßgeblich mitverhandelt hat, tritt in Kraft. |
1994 | Bei der EU-Volksabstimmung befürworten 66 Prozent den Beitritt. | ArbeitnehmerInnen bekommen ein Recht auf arbeitsmedizinische Betreuung. |
1995 | Mit 1. Jänner tritt Österreich der EU bei. | Start der "Aktion Fairness" des ÖGB zur Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten |
1996 | BSE-Skandal | 90 % der ArbeitnehmerInnen stimmen bei der Mitgliederbefragung in den Arbeiterkammern für die Beibehaltung der Pflichtmitgliedschaft. |
1997 | Pensionsreformverhandlungen | |
1998 | Larry Page und Sergey Brin gründen Google. | Bildungskarenz |
1999 | Totale Sonnenfinsternis über Österreich (die nächste wird erst wieder 2081 stattfinden). | Steuerreform 2000 |
2000 | Schwarz-blaue Regierung, Kaprun-Unfall |
Arbeiter bekommen ihren Lohn gleich lange fortbezahlt wie Angestellte ihr Gehalt. |
2001 | 11. September: Terroranschlag in New York | |
2002 | Der Euro wird Zahlungsmittel in Österreich. "Sozialstaat-Volksbegehren" |
AK EuroHotline, Abfertigung neu |
2003 | ist ein Rekordsommer: Meteorologische Messungen zeigen, dass dieser Sommer der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen im 18. Jahrhundert ist. | AK und ÖGB erreichen durch Aktionen und Streiks Abmilderung der Härten der geplanten Pensionsreform |
2004 | Pensionsvolksbegehren | Sozialpartnereinigung über Entgeltschutz für Arbeitslose, Schwerarbeiterregelung, Änderung der Dienstleistungsrichtlinie |
2005 | Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim gründen Youtube. | Erhöhung der Bemessungsgrundlage für Zeiten der Kindererziehung |
2006 | Ausbreitung des Vogelgrippevirus | |
2007 | Smartphones werden populär, das 1. iPhone bricht alle Rekorde. | Mehrarbeitszuschlag für Teilzeitbeschäftigte (25%) |
2008 | Die Pleite der Lehmann Brothers führt zu einer weltweiten Finanzkrise; Mark Zuckerberg gründet Facebook. | Freie DienstnehmerInnen werden sozialrechtlich gleichgestellt, Forderung nach 1.000€ Mindestlohn |
2009 | Steuerreform und Arbeitsmarktpakete | |
2010 | Arabischer Frühling. Erste TabletPCs kommen auf den Markt. |
Bedarfsorientierte Mindestsicherung, AK Aktion "Müssen wir jede Krot schlucken" |
2011 | Gesetz gegen Lohn- und Sozialdumping, AK Aktion "Lassen Sie sich nicht zur Schnecke machen" | |
2012 | das analoge Fernsehen ist Geschichte | Bildungskarenz wird Dauerrecht, AK Aktion "In Österreich läuft etwas schief" |
2013 | Benedikt XVI. tritt von seinem Amt als Kirchenoberhaupt zurück. Sein Nachfolger ist Papst Franziskus. | Pflegefreistellung für „Patch-Work-Familien“, Reform der Kurzarbeit, AK Aktion "Es gibt noch immer viel zu tun" |
2014 | Fußballweltmeisterschaft in Brasilien | ÖGB-Kampagne "Lohnsteuer runter" |
2015 | Flugzeugkatastrophe der Germanwings in Frankreich. | AK Aktion "Lohnsteuer senken" |
2016 | Flüchtlingskrise in Europa. | 882.184 Menschen unterstützten „Lohnsteuer runter“, jetzt gibt’s mehr im Börsel |
Statistik: Arbeitszeit – Urlaubsanspruch – Lohn – kartoffelpreise – Straßenbahnpreise 1989-heute
Arbeitszeit | 40 Stunden / Woche | Metaller mit verkürzter Arbeitszeit: 38,5h/Woche |
Urlaub | 5 Wochen (30 Werktage / Jahr), seit 1986 | |
Lohn | 17.568 Schilling / Monat | das entspricht 20.496 Schilling / Monat (um 1990) brutto, pro Arbeiter, im Durchschnitt, einschließlich Weihnachts- und Urlaubsremuneration, Stat. Tb 1992, S. 252 |
1 kg Kartoffel kostet | 14 Schilling (1995) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
1 Straßenbahnfahrschein kostet | 20 Schilling (1995) | Reinhold Russinger, AK Wien, Abt Wirtschaftswissenschaften, unveröffentlichter Kaufkraftvergleich. |
Zitat
HERBERT TUMPEL
"Eine erfolgreiche Konsolidierung kann es nur geben, wenn sie Rücksicht auf Beschäftigung und Wachstum nimmt. (…) Es ist insbesondere Zeit für umfassende Regulierungen der Finanzmärkte, für eine Stärkung der Konsumentenrechte im Finanzsektor und die Beseitigung der Ungleichgewichte im europäischen Wettbewerb. (…) Der Weg zu mehr Verteilungsgerechtigkeit (muss) konsequent weitergegangen werden.“
aus: Arbeitsmarkt, Bildung, Verteilungsgerechtigkeit, Pflege und Gesundheit - die Herausforderungen für 2011, Presseaussendung vom 29. Dezember 2010
Herbert Tumpel, Leiter des Volkswirtschaftlichen Referats des ÖGB 1983-1987, Leitender Sekretär des ÖGB 1987-1997, Präsident der AK Wien und Bundesarbeitskammer 1997-2013
Kapitel 7: Ausblick
7. Kapitel downloadenGERECHTIGKEIT MUSS SEIN.
WIR SIND IHR SOZIALPARTNER.
Die AK ist gemeinsam mit den Gewerkschaften die offizielle Stimme von mehr als dreieinhalb Millionen Beschäftigten in Österreich. Bei uns bekommen Sie Beratung im Arbeitsrecht, in Steuerfragen oder wenn es um Konsumentenrechte geht. Wir prüfen Gesetze aus Ihrer Sicht. Seit 1920. Für Sie. Damit es gerechter zugeht in unserem Land. Und wir werden auch in Zukunft darauf schauen, dass Sie Rechte haben und Ihr Recht bekommen.
KARL RENNER. Staatskanzler, späterer Bundespräsident | RENATE ANDERL. Präsidentin der Arbeiterkammern |
„Die Regierung Renner hat der Arbeiterschaft jene soziale Gesetzgebung gebracht, die seither vielen Ländern zum Vorbild geworden ist: Achtstundentag, gesetzlicher Anspruch auf Urlaub, Vertretung in den Betrieben, Kollektivvertrag und die Schaffung der Kammern für Arbeiter und Angestellte.“
Es handelte sich um ein Reformpaket, das vor allem mit dem Namen des Staatsekretärs für soziale Verwaltung, Ferdinand Hanusch verbunden wird. |
„Das Recht auf Betriebsratswahlen, Kollektivverträge, 8-Stunden-Tag und mehr – darum haben Gewerkschaften vor 100 Jahren bitter gekämpft. Ein wichtiger Teil der damaligen Errungenschaften der Gewerkschaften war die Gründung der Arbeiterkammer. Und seit damals arbeiten und kämpfen wir Seite an Seite immer für das selbe Ziel: Gerechtigkeit für die arbeitenden Menschen in unserem Land. Angesichts der Corona-Krise und ihrer Folgen werden die Arbeiterkammern ungebrochen gebraucht. Wir stehen auch heute immer an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“ |
Radioaufnahme, 1931. |